Teil II. Sehen und Erkennen Inhaltsverzeichnis   Home
 
Die Frage, "wo das gesehene Bild entsteht" ist zwar nicht so alt wie die Bildkommunikation, vor einigen Jahren meinten jedoch manche: Bilder entstünden im Auge des Betrachters. Der Diskurs in der Kunst dokumentiert vergleichbare Schwierigkeiten der Lokalisation, wie bzw. von wo aus Bilder gesehen und verstanden werden. Programmatisch zeigt dies folgender Text eines öffentlichen Plakats auf:

"Kunst-Betrachtung ist keine begriffliche Beurteilung des künstlerischen Objekts (ob es denn noch Kunst sei),
sondern die ästhetische Selbst-Erfahrung des betrachtenden Subjektes (wie es seine Phantasie entfaltet und proportioniert)." [Lingner 1986/72]


Dieses Statement meint, es käme weniger darauf an, was verstanden wird, als darauf, welches Gefühl in der sinnlich wahrnehmbaren Selbsterfahrung eigendynamisch aktualisiert wird. Nicht der begriffsorientierte Verstand soll der Ort der Kunst sein, sondern das emotionalisierte "Auge", in welchem sich die Bildperzeption dank intentionaler Bildproduktion autonomer Individuen mobilisiert [hierzu Bockemühl 1985/91]. Oft zeichnen sich Thematisierungen durch ihren dialektischen Charakter aus, so auch die der Kunst. Beat Wyss fordert: "Kunst sei nicht Gegenstand des Sehens, sondern des Denkens" (14) [Wyss 1992/9]. Wie die Beteiligten das Thema auch drehen und wenden, die Ortsbestimmung, wo Kunst entsteht, behauptet gleich mit, daß Kunst entsteht. Es scheint, daß die Betreffenden in der Kunst zwar wissen, was getan wurde, aber kaum erinnern, wie sie es vollbrachten. Ebenso unsicher sind sie sich darin, wie Bilder in der Kunst wahrgenommen werden oder werden sollen. So bleiben im speziellen Fall der Kunst, aber auch im allgemeinen Fall der Bilder insgesamt, die bildbezogenen Theorien auf der Suche danach, ob Bilder im Sehen, in der Erfahrung oder im Denken entstehen bzw. wahrgenommen werden. Semiotisch gesprochen lautet die zu beantwortende Frage: Entstehen Bilder in der Erst-, Zweit- oder Drittheit, also aus einer Möglichkeit, einer Wirklichkeit oder einer Notwendigkeit heraus?

Nun ist weder jedes Kunstwerk ein Bild, noch ist jedes Bild ein Kunstwerk. Gleichwohl verharrt die Frage, wo das Bild entsteht und vor allem wie. Der äußere Anlaß einer Wahrnehmung ist bekannt, nur dem Auge ist ermöglicht, visuelle Phänomene zu empfinden. Aber wie wird das in Bildern Gesehene zum Erkannten und das Erkannte zum Gesehenen; sieht der Bildbetrachter etwas, was er wußte, was er sich in seiner Phantasie vorstellte oder auch etwas, was ihm unvorstellbar war und er nicht wußte? Die Fragen, die in den folgenden Kapiteln das Problem zwischen Wissen und Sehen aufgreifen, lauten: Wie werden Bilder gesehen? Was ist visuelle Wahrnehmung? Entstehen Bilder in der Wahrnehmungserfahrung oder im Denken? Warum weisen Bilder eine kulturgebundene Selbstähnlichkeit in der Darstellung auf? Wie prägt die Kultur manche Sehgewohnheiten des Individuums?

Um diese Fragen zu beantworten, wird mit dem Einfachsten (sic!) begonnen werden, dem Sehen von Bildern. Obwohl die anatomischen und psychischen Voraussetzungen des Menschen innerhalb soziologischer Erklärungsmodelle rasch dem Verständnis des Biologismus oder Psychologismus anheim fallen können, sind Bedingungen des visuellen Wahrnehmungssystems doch zu beachten. Ließe man dies aus, führe man mit den soziologischen Suppositionen fort, die gesellschaftliche Einflüsse auf visuelle Wahrnehmung typisieren. Verkehrt wäre der Reduktionismus, Soziologie unbegrenzt aus Psychologie herzuleiten. Trotzdem ist für visuelle Wahrnehmung der Ansatz nicht zurückzuweisen,
"... daß mittels sozialpsychologischer Theorien die Probleme des Sozialwissenschaftlers besser gelöst werden können als mit ad hoc - meist aufgrund des Alltagsverständnisses - formulierter Hypothesen oder mit bereits vorliegenden Aussagen der Soziologen." [Opp u. Hummel 1971/85]
Vorwiegend läßt Psychologie zwar das Bewußtsein im soziologischem Sinne aus, aber "... sie befaßt sich mit den Erfahrungen des Einzelnen in ihrer Relation zu den Voraussetzungen, unter denen sie auftreten. Um Sozialpsychologie handelt es sich dort, wo die Voraussetzungen sozialer Natur [Wahrscheinlichkeit] sind" [Mead 1988/79].
Wenn auch viele Voraussetzungen der Bildwahrnehmung im sozialen Austausch geschaffen werden, so werden doch auch manche von ihnen im psychischen System des Individuums konstruiert. Gesellschaft und Kultur wären ohne Kommunikation undenkbar; Wahrnehmung allerdings läßt sich vom Individuum vorkommunikativ entfalten. Den einzigen, vorerst sozialen Sachverhalt, der visuelle Wahrnehmung motiviert, eröffnet die Geborgenheit des Kindes. Ohne sie würde sich das Kind in keiner Weise mit seiner Umwelt befassen [vgl. Metzger 1975/656]. Ansonsten betont Metzger, daß Kinder zuallererst unabhängig von Gesellschaft und sozialen Voraussetzungen wahrnehmen.
"Wer behauptet, daß die gesellschaftlichen Umstände nicht nur eine unter vielen Bedingungen, sondern die entscheidende Voraussetzung des Wahrnehmens seien, muß auch behaupten, daß schon die ersten Wahrnehmungen des kleinsten Kindes gesellschaftlich bedingt seien. Tut er das, so hat er sich mit der Tatsache auseinanderzusetzen, daß beim Kind die Fähigkeit, einfache Dinge, Formen und Vorgänge wahrzunehmen, erwiesenermaßen lange vor der Fähigkeit zur Wahrnehmung sozialer Sachverhalte ausgebildet ist." [Metzger 1975/656]
Im weiteren hebt Metzger hervor, daß der innovative Erkenntniswert immer geringer würde, sobald Wahrnehmung unentwegt von gesellschaftlichen Einflüssen gewährleistet sein sollte. Schlösse Wahrnehmung die Kreativität aus, die sich in individuellen Eigenbeiträgen als Möglichkeit für unterschiedliche Erfahrungen offen hält, dann würden von vornherein gesellschaftlich konstruierte Schablonen jede Wahrnehmung derart lenken, daß der Interpretierende eines Bildes ausschließlich das sehen könnte, was er bereits vorher erfahren oder gedacht hat, was sicherlich alltäglicherweise oft vorkommt. Was Metzger trotzdem übersieht, ist, daß einfache Gegenstände, Formen und Vorgänge selbst zur sozialen Weltkonstruktion gehören. Das Gegenständliche und insbesondere das Kulturelle bilden eine offene Umwelt, die mehr umfaßt, als lediglich die Sachverhalte, die über sie mittels Interpretanten erdeutet werden.

Wenn fortwährend kommunizierte Zeichenbedeutungen das Sehen dirigieren würden, wäre dies ungefähr so, als ob jemand angefüllt mit sozialen Konstruktionen über Bilder spricht, aber diese niemals mit eigenen Augen sah und subjektiv deutete. So erstaunlich es klingt, so gehen dennoch manche Theoretiker davon aus, daß das Sehen kontinuierlich von kommunizierten Bedeutungen gelenkt sei. Solche Positionen scheinen sich aus den Realitätskonstruktionen der westlichen Welt herzuleiten, in denen das erfaßt wird, was als erfahrene Existenz zur dicentischen Behauptung genügt und als logisches Argument brauchbar scheint. Alles das, was ohne Zeichenbedeutung verweilt, wird kaum benannt werden, weil - systemtheoretisch gesprochen - Prozessieren ohne Differenzerlebnis im System keine kommunizierbare Realität ausbildet. Trotzdem entsteht im Sehen mehr, als sozial kommunizierte Bedeutungen zulassen. Daß dieses "Mehr" sich in den Bedeutungen verflüchtigt, beschreibt Chris Marker in seinem Film »Sans Soleil« als "die unerträgliche Eitelkeit der westlichen Welt, die nicht aufgehört hat [mit Bildern derzeit aber doch aufhört], das Sein gegenüber dem Nicht-Sein und das Gesagte gegenüber dem Nicht-Gesagten zu privilegieren" [Marker 1983/26]. Das Nicht-Gesagte, das Nicht-Bedeutete und doch Gezeigte fällt mit dem Bild vorsprachlich und vorsozial in die Kultur ein. Denn mit der Zweitheit der Wahrnehmung konstituiert sich kulturelle Wirklichkeit [Zweitheit], ohne daß diese von Zeicheninterpretanten der Bedeutung in die gesellschaftliche Pragmatik hineingeholt wären. Springt jedoch dem Sehen ein finaler Interpretant bei, wird kaum mehr alles wahrgenommen. Die Individualität der Wahrnehmung gehorcht dann der Zeichenbedeutung, mit der dasjenige zur Anschauung kommt, was über soziale Relevanz verfügt. Umgekehrt fällt es uns schwer, etwas zu sehen, was bisher noch keine Zeichenbedeutung hatte. Daß diese Bedeutungen kulturabhängigen Plausibilitätskriterien unterliegen, wird z.B. noch bei der Betrachtung scheinbar "realistischer" Veranschaulichungen, d.h. Fotos oder Television, präzisiert werden.

Aus jenem Beschriebenen folgt nicht der Schluß, daß nichts gesehen wird, sobald Interpretanten hinzutreten. Vielmehr sollte darauf aufmerksam gemacht werden, daß sich Sublimes in soziale Gefüge einschleicht, was zwar visuell wahrgenommen wird, aber kaum notwendigerweise in kommunikative Realitäten der Zeichenbedeutungen verwoben ist. Beispielsweise liest der Nachrichtensprecher im Fernsehen neuerdings die neuesten Meldungen vom Teleprompter ab. Die Bedeutung des Bildes vom Nachrichtensprecher bleibt unverändert. Dennoch sitzen sich Sprecher und Betrachter nun Auge in Auge gegenüber, was zwar die Bedeutung des Gesprochenen kaum berührt, was jedoch die Eindringlichkeit des Gesprochenen verstärkt. Der intensivierte Blickkontakt läßt sich auf die Funktion unbemerkter Bedeutung ein, indem der Sprecher, ohne mit der Wimper zu zucken, das Gefühl seiner eigenen Aufrichtigkeit erzeugt, wodurch sich die Glaubwürdigkeit der Nachricht erhöhen soll.

Eine andere Erscheinungsweise des gleichen Phänomens zeigten Besucher der Documenta 1992. Sie interessierten sich selten dafür, wie etwas dargestellt ist, sondern wollten erkennen, was dargestellt ist. Oft waren Feststellungen folgender Art zu hören: das ist ein Mensch, das sind Exkremente, da ist ein Stuhl, das sind Ameisen usw. Die in diesen Worten bekundeten Bedeutungen waren in der Lage, jedes ikonisch Sublime mit einem Wort zu erledigen, woraufhin sich jene Betrachter beruhigt den nächsten Vergegenständlichungen zuwendeten. Man kann sicher sein, daß, wenn die Besucher gefragt würden, wie ein Bild aussah, sie nur wenige Details des Bildes neben dem der singulären Namensnennung des veranschaulichten Objekts angeben könnten. Um handlungsfähig zu bleiben, verkürzten viele Ausstellungsbesucher die Bilder der Kunst auf be- und erkannte Zeichen (Formen) und Bedeutungen, genauso wie sie es in der Alltagswelt praktizieren (15), in der sie dem Wahnsinn unbeendbarer Bedeutungssuche entgehen müssen. Noch drastischer verkürzt manchmal der Kunstkenner das Bild auf seine Bedeutung im Kunstsystem, indem er es beispielsweise sofort dem Expressionismus zuordnet und es demzufolge kaum noch betrachtet. Was dem Kunstkenner und auch dem unverblendeten Betrachter selten als Bedeutung bewußt wurde, ist die Tatsache, daß sie binnen sehr kurzer Zeit in der Lage waren, die Bilder visuell zu erfassen und augenblicklich erkannten, wie sie einzuordnen sind. Wie noch zu begründen ist, wurde es den Betrachtern zur visuellen Gewohnheit, die Zeichenmittel ihrer Bildkultur (Quali-, Sin- und Legizeichen) augenblicklich zu decodieren. Ebenso wie ein Bildbetrachter seine Nase (16) in seinem Blickfeld nur problematisiert, wenn sie stört, ebenso verfolgt er die optische Struktur eines Bildes bewußt, sobald sie ihm ungewohnt scheint. Gewohnheiten erzeugen selten Differenzerlebnisse. Darum bleiben sie auch unhinterfragt und stabilisieren sich.

In Bildern wird durchaus mehr wahrgenommen, als in sozial ko-orientierten Bedeutungen aktualisiert wird. Die Betrachter von Bildern können Dinge sehen, denen sie in subjektiver Bildbetrachtung eine für sie allein gültige Bedeutung zugestehen, obwohl sich diese jeder gesellschaftlichen Bedeutung entsagt. Eine solche Wahrnehmung wäre nicht notwendigerweise an gesellschaftlichen Bedeutungen orientiert, sie wäre unvergesellschaftet. In welchem Bewußtsein kann jedoch etwas gesehen werden, was nicht auch schon in gesellschaftlichen Bedeutungscodierungen existiert, und wie kann etwas wahrgenommen werden, ohne als Zeichenbedeutung bewußt zu werden? Die Begriffe »Bedeutung« und »Bewußtsein« kennzeichnen die ungeklärten Pole, um die sich die Theorien zur visuellen Wahrnehmung drehen. Im folgenden wird zu klären sein, wie Bedeutung und Bewußtsein zueinander stehen bzw. wo Voraussetzungen der visuellen Wahrnehmung als Konstituens der Bedeutung übergangen werden. Wenn nämlich allgemein Bilder und speziell Bilder der Kunst, wie eingangs formuliert, im Auge des Betrachters oder aber im Denken entstehen, dann impliziert dies vermutlich differierende Bedeutungsinhalte und Bewußtseinsstufen. Notwendig ist diese Analyse, um zu begründen, in welchem Bewußtsein die Bildbetrachtung ohne kommunikative Zeichen auskommt, d.h., wo sie unvergesellschaftet ist. An dieser Frage interessiert mich vor dem Hintergrund der Wahrnehmungspsychologie, die der visuellen Form (Gestalt) allein keine Bedeutung beimißt, warum Bilder in Kulturen häufig ähnlich sind, also gleichartige Formen darbieten. Im weiteren kann die Thematisierung der kulturellen Bedeutung von Bildern ohne einen Begriff der Bedeutung nicht auskommen, obwohl die kulturelle - und damit die kommunikative - Bedeutung erst im Teil III ausführlich erörtert wird.


----Fußnoten----

(14) G.R. Koch pointiert in der FAZ vom 28.9.1992 bezüglich der Documenta 9 eine aktuelle Entwicklung: "Wer Kunst erfahren wollte, muß sich vieles dabei denken, am Ende sie selbst." Offenbar wird Kunst vorrangig als finaler Interpretant in einem Zeichencode verstanden, in dem Kunsterfahrung eher entfernt angestrebt wird. Wie der Künstler Ilya Kabakov [vgl. 1993/22] meint, gilt das Interesse nicht mehr der Herstellung eines Kunstwerks, sondern dem Diskurs, der erst das Kunstwerk erzeugt.


(15) Ohne die Abstraktion von Umweltereignissen auf kognitiver Ebene ist eine Steuerung sinnvollen Handelns unmöglich [vgl. Roth 1991a/247].


(16) Man muß sich seine Nase nur farbig anmalen, und man wird sehen, wie sehr sie eigentlich im Blickfeld stört bzw. wie sehr man sich an diese Störung gewöhnt hat. Man sieht nun, daß man nicht gesehen hat, was man schon immer gesehen hat.



   2.1. Bedeutung und Bewußtsein in Differenz
zur Möglichkeit von Wahrnehmung
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Die semiotische Einführung setzte Zeichen und Gesellschaft in eine Beziehung, in der der kommunikative Austausch von Zeichen Gesellschaft stiftet, und umgekehrt Gesellschaft Zeichen entwickelt [s.S. 13]. In dieser Relation sind und tragen Bilder ebenfalls Zeichen. Soll nun die Bedeutung von Bildern und das Wahrnehmungsbewußtsein von Rezipienten beschrieben werden, muß die Bezugsordnung bestimmt werden. Denn es bleibt unmöglich, wie Luhmann [vgl. 1990/54f.; 1992/63f.; s.S. 53] bemerkt, den Wissensbestand einer Gesellschaft auf Bewußtseinsvorgänge psychischer Systeme zu reduzieren und oder aus diesen zu rekonstruieren. Umgekehrt lassen sich jedoch Bewußtseinsvorgänge von psychischen Systemen von gesellschaftlicher Kommunikation (sozialen Systemen) beeinflussen, wie es in dem Meadschen Begriff der Sozialpsychologie intendiert ist. Somit spitzt sich eine Hypothese darauf zu, daß Voraussetzungen der Bildwahrnehmung und -produktion kulturellen Merkmalen folgen, die pragmatische Bedeutungen sowohl in als auch außerhalb sozialer Bezugsrahmen stabilisieren. Bilder fungieren bereits innerhalb kultureller Konstellationen als kommunikative Zeichen, wodurch sie zumindest potentiell auf Bewußtseinsvorgänge von Individuen wirken. Wenn Wahrnehmung bzw. Wahrnehmungsmechanismen des individuellen Bewußtseins das Bezugssystem sein sollen, dem soziokulturelle Einflüsse zurechenbar sind, dann verstehe ich dies als sozialpsychologische Problemstellung. Eine rein soziologische Untersuchung betrachtet eher, für wen, wann und aufgrund welcher Interessen Bilder zur Bedeutung und zu Bewußtsein kommen. Was beiden Ausrichtungen zweifellos zugrunde liegt, ist die Frage nach der Bedeutung, oder auch, was kommt als Bedeutung zu Bewußtsein, und vor allem wie und wodurch kommt Bedeutung zu Bewußtsein. Zunächst bedarf das sozialpsychologische Verhältnis zwischen Bedeutung, Bewußtsein und Wahrnehmung weiterer Erörterung.

Auch wenn Bilder Zeichen tragen und sind, so haben sie ebenso eine Gegenstandswirklichkeit inne, die zwar anzeigt, daß visuelle Zeichen oder Bilder zur Präsentation kommen, die aber auch eine Wirkung erweckt, die kein Zeichen sein kann. Gewiß ließe sich meinen, daß beispielsweise Brot selbst als ein Zeichen für die Funktion von Brot verstanden wird, also der Gegenstand und das ihn identifizierende Zeichen seiner Funktion zur bedeutungsgleichen Orientierung führen. Diese Betrachtungsweise ist für den an Zeichen gebundenen Verstehens- und Erkenntnisprozeß berechtigt, reicht aber nicht aus, weil wir das Brot selten ausschließlich als Zeichen beanspruchen, sondern auch essen. Zeichen verderben eventuell den Appetit, aber sie machen nicht satt. Die Vielfalt sinnlicher Blickwinkel, die ein optischer Gegenstand ermöglicht, wird auch deshalb nie mit seinem Zeichen identisch sein, weil wir sonst ebenso viele Zeichen wie Wahrnehmungsaspekte nötig hätten, wodurch Kommunikation und vor allem soziale Bedeutungsverwandtschaften beträchtlich boykottiert wären. Genauso wie Brote, sind Bilder Dinge, die man nahezu immer anfassen kann, die man real in ihrer Körperlichkeit erfahren und visuell wahrnehmen kann. Bilder stellen aber auch Dinge dar, die sie mittels visueller Zeichen re-präsentieren. Es kommen also zwei Objektbegriffe vor. Erstens ist das Bild ein materielles Ding, welches wirklich vorhanden als Gegenstand gegeben ist, und zweitens illustriert es Objekte, auf die es mittels Zeichen hindeutet. Deshalb ist zu unterscheiden, ob ein Bewußtsein vom Gegenstand Bild oder ein Bewußtsein der Zeichen auf einem Bild infolge der Wahrnehmung entsteht. Bilder zeigen etwas, auf das sie hinweisen, während sie es im Gegenstand wahrnehmbar "verkörpern" [hierzu Zimmermann 1980/42]; sie repräsentieren also etwas konstant gegenstandshaltig.

Das Bewußtsein des Gegenstandes erfordert, daß dessen Kontakt-Erfahrung eine Wirkung eröffnet [s.S. 28]. In dieser direkten Wahrnehmungserfahrung kommt dem Gegenstand Bild wirksame Existenz [Zweitheit] zu, in der sich nicht das Kantsche Ding an sich, sondern die visuelle Wirklichkeit für uns konstituiert [hierzu Pape 1989/133]. Mit Husserl konkretisiert ist das Bild ein "... Raumding, das wir sehen ... [und] in seiner Leibhaftigkeit bewußtseinsmäßig Gegebenes" (17) [Husserl 1980/79 §43]. Somit vergegenwärtigt Gegenstandswahrnehmung kein Abwesendes, wie es vollständige Zeichen bewirken. Um diese vorzeichenhafte Präsenz zu umfassen, möchte ich die Bedeutung des Bildgegenstandes in der direkten Wahrnehmung mit dem Begriff der Gegenstandsbedeutung von Holzkamp bezeichnen. Für die Gegenstandsbedeutung bleibt es unerläßlich, daß sie im direkten Gegenüber des Gegenstandes "im Zusammenhang mit der menschlichen Lebenstätigkeit" [Holzkamp 1973/25] wahrgenommen und nicht etwa vorgestellt bzw. gedacht wird. Die Gegenstandsbedeutung erfaßt die Gegenstände, die bei körperlich wirksamer Erfahrung in räumlichen und zeitlichen Kontexten für das pragmatische Handeln individuell existieren. Was dann in dieser Wirklichkeit [Zweitheit] für ein Individuum "... ein Gegenstand bedeutet, besteht einfach in den Verhaltensweisen, die er involviert" [Peirce 1967 I/337], und "... welche Gewohnheiten ... [er] in sich [ein-] schließt" [Peirce 1985/66; vgl. 1960/5.400]. Insofern involvieren pragmatische Gegenstandsbedeutungen  e r f a h r e n e  Wirkungseinschätzungen [Zweitheit]. Diese entfliehen jedoch einem behavioristischen Reduktionismus, indem sie in ihrer gegenstandsbezogenen Verhaltenspraxis von gedanklichen und zeichenhaften Konzeptionen (Zeichenbedeutungen) begleitet oder auch antizipiert sein können [vgl. Apel 1972/38; Oeser 1988/155; Ogden/Richards 1974/217ff.]. Und dennoch: was etwas  b e d e u t e t, besteht darin, welche Verhaltensweisen, Gewohnheiten und Interpretationen es involviert.

Von der Wahrnehmungswirklichkeit einer Gegenstandsbedeutung spaltet sich die Zeichenbedeutung ab. Die Zeichenbedeutung eines Bildes zeigt sich nicht mit dessen wirksamer Gegenstandsbedeutung; sie demonstriert sich mit der finalen Interpretation von Zeichen und deren repräsentierenden Objektbezügen. In der konkreten Wahrnehmungssituation bieten bildlich konzeptualisierte Gegenstände (Objekte) keine Wirklichkeit, die mit ihren Möglichkeiten multiaspektischer Existenz identisch wäre; sie werden in ikonischen Bildern von monoaspektischen Zeichen bezeichnet, d.h., bildliche Zeichen deuten auf ikonisch erkannte Objekte meist in einem einzigen "Blickwinkel" hin. Im Bild sind keine Gegenstände zu sehen, sondern Zeichen, die dem Individuum optische Wirkungseinschätzungen von Objekten vorstellbar werden lassen sollen. Diese mittels Zeichen vorgestellten Objekte bezeichnet Peirce als das unmittelbare Objekt eines Zeichens, sofern es die (visualisierte) Idee des Objekts in der Bildbetrachtungssituation ikonisch, indexikalisch oder symbolisch hervorruft.

Der andere Fall einer Zeichenbedeutung besteht darin, daß der Bildgegenstand als Zeichen für seine Funktion wirkt. Hier drängt der Gegenstand auf seine Zeichenfunktion, indem er sich als wirklicher Gegenstand und als kommunikationswirksamer Zeichenträger wiederzuerkennen gibt. Bei diesem von Peirce als reales oder dynamisches Objekt benannten Faktor tritt hervor, daß ein Bild-Gegenstand als Zeichen für die Präsentation von Zeichen real wahrgenommen wurde, indem er zwar direkt wahrnehmbar die Zeichenbildung vorantreibt, aber nicht als repräsentierendes Zeichen, sondern im Wahrnehmungsbewußtsein als unabgeschlossenes Zeichen in Anspruch genommen wird, nämlich als Quali- Sin- und Legizeichen mit einer selbstindizierenden Funktion [vgl. Peirce 1960/8.183, 8.343, 5.473; 1985/151f.].

Das dynamische Objekt einer Semiose soll nach Peirce in letzter Analyse das vorbewußte, z.B. qualizeichenhafte Perzept eines direkt empfundenen Gegenstandes sein, der im Denken bestimmbar wird. Obwohl vermutlich kulturell beeinflußte Plausibilitätskriterien für die Wahrnehmung eines Gegenstandes vorliegen, wie Eco [vgl. 1991/222] betont, scheint es doch problematisch, wenn die primordiale (18) Wahrnehmung eines unbekannten Gegenstandes als eine Abfolge von zeichenhaften Perzepten der Erstheit betrachtet wird, zumal die Peircesche Theorie Wahrnehmungen niemals als eine Wiederholung derselben begreift und Perzepte innerhalb der Phänomenologie nicht als Zeichen versteht [vgl. Peirce 1960/4.539, 8.300; Pape 1989/317; Bühler 1990/113f.]. Ebenfalls hebt Apel [vgl. 1975/208; Pape 1989/464] hervor, daß für Peirce sowohl ästhetische Kontemplation, als auch die Phänomenologie der Anschauung keine Erfahrung ist, die in den Geltungsbereich der semiotischen Erkenntnistheorie zurückzubringen sei und in ihrer Erstheit zur wahren Aussage über die Umwelt führen könnte. Obwohl Peirce und andere universalistisch denkende Semiotiker das dynamische Objekt und die Gegenstandsbedeutung eines Bildes als ein und dieselbe Sache ansehen würden, sofern bei jedem in der Zweitheit "... reaktiv bestimmten Wahrnehmungsurteil eine Zeichenstruktur vorliegt" [Pape 1989/193], möchte ich dennoch der Gegenstandsbedeutung einen phänomenologischen Teil zuschreiben, der deshalb vollständige Zeichen unterschreitet, weil er als Gegenstandserfahrung nicht in den Bereich der Drittheit, des Denkens und der Kommunikation unbeschadet zu überführen ist. Das dynamische Objekt in seiner Gegenstandshaftigkeit involviert die körperlichen Erfahrungen, die das Existieren reflexionsunabhängiger Wirkungsrelationen von Bildgegenständen verwirklicht [Zweitheit]. "Wäre [nämlich] die Bestimmung des Objekts durch die Zeichen die einzige mögliche Richtung der Semiose, so wäre innovierende [Non-Ego-]Erfahrung ausgeschlossen" [Schönrich 1990/132]. Infolgedessen entzieht sich die Gegenstandsbedeutung einem "Bezeichnungsimperialismus" [Lenk 1993/63], dem allein das Bezeichnete real sei. Dynamische Materialwirkungen von Bildgegenständen verflüchtigen sich nicht in den Bezeichnungen von ihnen, gegebenenfalls provozieren sie sogar unbezeichnete Erfahrungen.

Für eine sozialpsychologische Untersuchung (Peirceianer mögen es mir verzeihen) verdeutlicht die Unterscheidung zwischen Zeichen- und Gegenstandsbedeutung unkomplizierter als die von »unmittelbarem« und »dynamischem« Objekt, daß wir den Gegenstand Bild wahrzunehmen lernen und erst infolgedessen Zeichen in ihrer kulturellen Zeichenstruktur erkennen. Zeichen, die sich durch das Bildmaterial als dynamisches Objekt oder Gegenstand präsentieren, benötigen Kontakt-Wahrnehmungen. Demgegenüber bezeichnet der unmittelbare Objektbezug des Zeichens etwas, das ohne wirkliche Kontakt-Wahrnehmung interpretiert, vorgestellt oder verstanden wird. Im unmittelbaren Objektbezug beschreiben bildliche Zeichen ein Phänomen der Drittheit, des Denkens und des Verstehens von Kommunikation, deren abstraktive Explikationen sich vom Gegenstand lösen und somit oft anderes einschließen, als die tatsächliche Wahrnehmung von ihm enthüllt [s.S. 28 (Drittheit)]. Im Alltagsfall nehmen wir zwar an, daß einfache Gegenstandsqualitäten bei gleicher Bezeichnung auch gleich wahrgenommen werden, bei Bildern scheinen jedoch Wahrnehmungswirklichkeiten im ästhetischen Sinne eher verwandte als identische Gegenstandsbedeutungen zu provozieren. Somit stabilisieren wir in zeichenvermittelten Zuschreibungen zwar Allgemeinplätze einer kooperativ kommunizierten Realitätskonstruktion, aber für vorbegriffliche Bilderfahrung heißt das dennoch nicht, wir hätten das Subjektive einer individuellen Wahrnehmungswirklichkeit miterlebt. Denn was in der Bilderfahrung außerhalb von interpersonalen Realitätsannahmen bleibt, sind private Gefühle und dynamische Erfahrungen einer (kontemplativen) Gegenstandswahrnehmung. Deshalb ist Holzkamp [vgl. 1973/181] insoweit zu widersprechen, wie für die Gegenstandsbedeutung eines Bildes, gegenüber welchem mögliche Wirkungseigenschaften und selten Notwendigkeiten gesellschaftlicher Lebenserhaltung aktualisiert werden, keine vorgegebene Objektivität behauptet werden kann, die sich aus "gesellschafts-historischen" Resultaten vergegenständlichter Arbeit ergibt. Die Zugänglichkeit zu gemeinsam entwickelten Zeichen bezeichnet keine Realität und erfordert keine Wirklichkeit, die auf etwas Vorzeichenhaftem basieren würde, dem gemeinsame oder "objektive" Gegenstandserfahrung in Sinne eines Identischen nachzusagen wäre [vgl. Putnam 1995/31].

Die Unterscheidung des wirklichen Gegenstandes Bild vom visualisierten Objekt bezieht im weiteren auch mit ein, daß Bilder eine höchst unwahrscheinliche Wahrnehmungssituation von zeichenhaft dargestellten Objekten verwirklichen. Neben der Dauer von unbewegten Bildzeichen, die an monoaspektischen Veranschaulichungen oft unverrückbar festhalten, entspricht ebenso der erforderliche Tunnelblick nicht der "natürlichen Welterfahrung" und "Weltsicht" [vgl. Fellmann 1989/111; Gibson 1982/88f.]. Die alltägliche Wahrnehmung von Farb- und Formpräsenz ist also deutlich wahrscheinlicher, das meint man oft mit "natürlich", als die Wahrnehmung unwahrscheinlicher Bildrepräsentation, deren zweidimensionale Formen oft Dreidimensionales bezeichnen. Und trotzdem existiert der Gegenstand Bild in räumlicher Umwelt, in der er eine direkte Wahrnehmungserfahrung aus der "natürlichen" Lichtabstrahlung seiner selbst präsentiert, obwohl deren unwahrscheinlich segmentierte Formen für Erfahrungen aus zweiter Hand stehen, indem sie etwas anderes repräsentieren. In dieser Hinsicht stellt die Bildhauerei eine bemerkenswerte Anwesenheit her. Ihre Skulpturen bestimmen sich stärker kraft der Gegenstandsbedeutung als kraft der Zeichenbedeutung, sofern die Skulptur im Erfahrungsmoment mehr sich selbst präsentiert, als daß sie etwas anderes zeichenhaft darstellt. Gleichermaßen benötigen aber Bilder für ihre Repräsentationen eine körperlich wahrnehmbare Bildpräsenz, die besonders für ästhetische Sinnlichkeit relevant ist.

Die Schwierigkeit, die Wahrnehmung zu konkretisieren, besteht in der Unwissenheit, nach welchen Bedeutungen sie sich ausrichtet. Zum einen hat jedes Zeichen, das vom Bewußtsein realisiert wird, wirkliche Existenz als gegenständliches Zeichenexemplar und -träger von Bedeutung, und andererseits hat die Außenwelt eine Gegenstandsbedeutung, die nicht schon gleich als Zeichenbedeutung interpretierbar ist [vgl. Sauerbier 1985/29]. Unbeeinflußt kann die Gegenstandsbedeutung im nicht-signifikanten Verhalten und Handeln der körperlichen Situation vorkommen, sie befindet sich also nicht in zeichenhaften oder verbalisierten Formulierungen. Der rein empirische Gegenstand der Erfahrung wird überhaupt erst zur Sprache oder zum Zeichen infolge des "»jedesmaligen« Gebrauchs" [Gerold Prauss 1990/108]. Zeichenbedeutungen verlaufen infolgedessen im sozialen Rahmen eines Geflechts von Zeichen, wie es die verbale Sprache und ebenfalls bildliche Zeichen durchsetzen. Dennoch konstituieren Zeichen-, Sprach- und insbesondere Bildbedeutungen keine Welt, die vollständig unabhängig von Gegenstandsbedeutungen zu erfassen wäre. Zeichenhafte Kontexte basieren auf der ursprünglichen Fähigkeit einer Reaktion auf nichtsprachliche Gegenstände, auch wenn für diese Kontexte der gegenstandshafte Ausgangspunkt selten rekonstruiert werden kann, wie es beispielsweise in Teilen der Sprache (19) und Bilder der Fall ist.

Wozu nun diese Unterscheidung der beiden Bedeutungskonstituierungen durch ein Individuum? Die meisten Theoretiker, die zur Wahrnehmung auf soziologischer Ebene einen Standpunkt einnehmen, gehen zutreffend davon aus, daß wahrgenommene Objekte im Bewußtsein durch Bedeutung aktualisiert werden. Problematischer wird es, sobald sie für jede Wahrnehmung annehmen, diese würde in Abhängigkeit von sozial segmentierter Gegenstands- oder von Zeichenbedeutung ein Bewußtsein erlangen. Im Grundtenor gehen sie entweder davon aus, daß ein Wahrnehmungsbewußtsein vorherrscht, welches sich größtenteils infolge verbaler Sprache und anderen Zeichen strukturiert, oder sie gehen von einem Wahrnehmungsbewußtsein aus, welches sich sehr an körperlicher Erfahrung der kulturellen Gegenstände und deren Gegenstandsbedeutung orientiert. Die hier getroffene Unterscheidung deutet auf Theorien, die sich um zwei Bedeutungskonzeptionen drehen: einerseits verpflichtet die materialistische Auffassung die Bedeutung eines wahrgenommenen Gegenstandes darauf, wie sie sich aus gesellschaftlichen Standorten des Individuums im Zusammenhang mit dessen Tätigkeit konstituiert, und andererseits soll in eher idealistischer Auffassung die wahrgenommene Wirklichkeit ganz und gar von Zeichenbedeutung vorgesteuert sein, d.h. hauptsächlich von verbaler Sprache und anderen vollständigen Zeichen [vgl. Sauerbier 1977/154]. Wie wird aber ein Wahrnehmungsaspekt mit Bedeutung belegt, wenn schon vorgängig immer Bedeutung dafür sorgen soll, daß der Gegenstand Bild oder das visuelle Zeichen im Bewußtsein präsent wird? In sozialpsychologischer Fragestellung lösen die gleich zu benennenden Theoretiker dieses Problem scheinbar, indem sie davon ausgehen, daß sozial konstruierte Gegenstands- und Zeichenbedeutungen unablässig individuelle Wahrnehmungsinhalte festlegen. Sobald aus dieser Fragestellung jedoch die Prämisse des Sozialen gestrichen werden könnte, wäre zumindest für Bilder eine visuelle Wahrnehmung möglich, bei der keineswegs ausschließlich sozial vermittelte Bedeutungen relevant werden. Für visuelle Wahrnehmung in ihren individuellen Möglichkeiten, wie von Metzger [s.S. 53] betont, besteht keine Notwendigkeit, die sie permanent mit sozialen Bedeutungen dirigieren würde. Kann sich also die visuelle Bildwahrnehmung des Individuums zumindest partiell unabhängig von gesellschaftlichen Bedeutungsmustern strukturieren?

Mit der Bedeutung greifen die beiden angesprochenen Theoriestandpunkte Wahrnehmung als ein soziales Phänomen auf. Mit dem Begriff »Bedeutung« wird Wahrnehmung nicht ausschließlich als psychische Informationsgewinnung verstanden, sondern im Sinne Luhmanns als eine "Artikulation doppelter Kontingenz", (20) indem in diesen Theorien wahrgenommen wird, daß Bedeutung im Verhalten oder Denken des Individuums wahrgenommen wurde.

"In sozialen Situationen kann Ego sehen, daß Alter ["der andere"] sieht; und kann in etwa auch sehen, was Alter sieht." [Luhmann 1987/560]
Was also die materialistische und idealistische Auffassung beschreibt, findet sich in der sozialen Situation der doppelten Kontingenz. Die Theorie sieht in etwa, wie sich jemand während der Wahrnehmungssituation verhält oder verbal mitteilt. Jedoch fehlt in diesen beiden Auffassungen die Einsicht, daß Sprache, Reaktion oder Handlung nur als Indikator für das Vorhandensein von Bewußtsein gewertet werden können [hierzu Ciompi 1992/144]. Am Beispiel der Documentabesucher [s.S. 55] ließ sich erkennen, daß sie die Bilder mit verbalen Bedeutungsäußerungen sofort in die soziale Situation der Kommunikation hineinholten, und genau dies beschreiben folgerichtig auch die betreffenden Theoretiker; warum und wie sollten sie sich auch für etwas engagieren, was in der sozialen Situation scheinbar keine Relevanz hat, nämlich die psychische Informationsgewinnung durch Wahrnehmung. Man muß jedoch präsent haben, daß die visuelle Information, die für die Wahrnehmung zur Verfügung steht, radikal verschieden ist von der, die wir weitergeben und über die wir reflektieren [vgl. Gibson 1982/58; Rorty 1987/211].

Innerhalb der einfachen Kontingenz des Individuums, also einer vorsozialen Situation, läßt sich die Wahrnehmung im Peirceschen Sinne der Kategorie der Zweitheit bereits möglicher Verwirklichungen zuschreiben. Denn geht man von konstanter Materialität eines optischen Gegenstandes aus, so werden dessen optische Qualitäten (z.B. Formen, Farben) trotzdem von jedem Individuum unterschiedlich in der psychischen Wirklichkeit [Zweitheit] konstruiert bzw. die psychische Informationsgewinnung bleibt individuell vielgestaltig. Und genau dies beschreibt Luhmann als eine Kontingenz, die zwar nicht das absolut Mögliche einbezieht, sofern sie das Unmögliche ausschließt, die aber das offen läßt, "... was von der Realität [Drittheit] aus gesehen anders möglich ist" [Luhmann 1987/152; s.S. 62 Fußn. 20]. Im auch anders Möglichen behält sich das Individuum in Graden eine Situation vor, in der es seine Wahrnehmung unabhängig von kommunikativen und interpersonalen Bedeutungskontexten strukturiert. Beispielsweise legen es künstlerische Bilder darauf an, etwas zu visualisieren, was, von der kommunizierten Realität aus gesehen, eben auch anders möglich sein kann. An und mit künstlerischen Bildern lassen sich Wahrnehmungsofferten kreieren, die sich in individuell vielgestaltigen Realitätskonstruktionen von gesellschaftlichen Notwendigkeiten emanzipieren. Trotzdem formulieren Individuen künstlerische und andere Visualisierungen nach Merkmalen, die nicht ausnahmslos auf individuellen Möglichkeiten der Verwirklichung (Freiheiten) beruhen, sondern auch auf optischen (ikonischen) Darstellungscodes (Notwendigkeiten). In diesen Darstellungscodes sind Bilder so angelegt, daß sie die Möglichkeit von Bedeutungskonstruktion nicht grundsätzlich verhindern, sondern in manchen Zeichenmitteln eine kulturgebundene Codierung (Form/Gestaltung) aufweisen, die mögliche Ähnlichkeiten bedeutungsoffen wiedererkennen läßt [s.S. 34 (Zeichenmittel), 38 (Ikon)].

Das Bisherige soll nicht verschweigen, daß Individuen ihre visuelle Wahrnehmung nicht auch oft nach sozial beeinflußten Bedeutungsmustern ausrichten. Es ist sicherlich zutreffend, wenn in idealistischer Anschauung, die im wesentlichen auf Benjamin Lee Whorf [vgl. 1963/100ff.] zurückgeht, dem individuellen Wahrnehmungsfeld eine Abhängigkeit vom sprachlich strukturierten Bewußtsein zugeschrieben wird. Auch die wahrnehmungstheoretischen Aussagen in der Denkweise des historischen Materialismus von Rubinstein und Holzkamp treffen mit dem Begriff der Gegenstandsbedeutung einen Teil sozial geprägter Bedeutungsmuster. Die berechtigte Kritik von Holzkamp an Whorf drängt darauf, daß das sprachlich strukturierte Bewußtsein nicht so verstanden werden darf, "... als ob das Bewußtsein mit der Sprache erst »entstünde«, wobei »Bewußtsein« generell keineswegs als selbständige Entität aufzufassen ist: »bewußt« ist vielmehr eine Qualität menschlicher Tätigkeit" [Holzkamp 1973/155]. Holzkamp [vgl. 1973/25ff.] und Rubinstein [vgl. 1966/90ff.] versuchen die Sprache als eine ideologische Einflußgröße zu betrachten, die in ihrer Ausrichtung auf die historische Entwicklung der Wahrnehmungsgegenstände bezogen bleibt; Wahrnehmung ist bei ihnen eine Frage des gesellschaftlichen Bewußtseins der Gegenstandsbedeutung, welche von ideologischer Symbol- (21) (Sprach-) Bedeutung beeinflußt wird. Mead [vgl. 1988/114ff.] und Morris [vgl. 1973/94ff.] hingegen meinen einen pragmatischen Berührungspunkt zu erkennen, indem sie die Wahrnehmung der Dinge an eine pragmatische Zeichen- (Sprach-) und Gegenstandsbedeutung gebunden sehen. Die Wahrnehmung hängt bei ihrer Theorie von ungleichen Bedeutungskonstruktionen im Verhalten und Denken ab.

Diese allerdings weder willkürlich noch repräsentativ ausgewählten Standpunkte lassen vordergründig vermuten, daß das Sehen von Gegenständen und Bildern seinen universellen Modus im präsenten Wissen der individuellen Zeichen- und Gegenstandsbedeutung findet. Was jedoch in diesem nach Bedeutung ausgerichteten Bewußtsein fehlt, ist die visuelle Informationsaufnahme selbst, die einer Information überhaupt erst die Möglichkeit einer Bedeutung bietet. Denn wie sollte ein des Sehens unbefähigter Mensch der Bedeutung eines Bildes, einer Farbe oder eines Gegenstandes bewußt werden und sich daraufhin verhalten oder verbal mitteilen. Auch wenn ihm die Bedeutungen der Farben kommunikativ mitgeteilt würden, so bliebe es für ihn dennoch dunkel. Deshalb kommt Luhmann zu dem treffenden Schluß,
"... daß das Bewußtsein im Wahrnehmen bzw. in der anschaulichen Imagination eine für Kommunikation unerreichbare Eigenart besitzt. Die Wahrnehmung selbst ist nicht kommunizierbar, denn nur Kommunikation ist kommunizierbar. Sicher kann sich Kommunikation wie auf alles so auch auf Wahrnehmung beziehen; aber dies nur, weil diese Möglichkeit durch vorherige Kommunikation schon entwickelt worden ist, also nur im rekursiven Netz der durch Kommunikation ermöglichten Kommunikation." [Luhmann 1992/20]
Um sich in diesem theoretischen Sinn eines Bildes bewußt zu werden, bedarf es neben den aus der Kommunikation hergeleiteten Bedeutungen auch der visuellen Wahrnehmung optischer Bildstruktur. Als Bewußtseinsereignis geht die visuelle Informationsaufnahme nicht in kommunizierbaren Mitteilungen auf. Sie verläuft in individuellen Bereichen der einfachen Kontingenz (Möglichkeit) bei hoher Komplexität, d.h., man sieht im Rahmen seiner visuellen Möglichkeiten mehr, als man in Mitteilungen kommunizieren kann. In dieser Wahrnehmungssituation entpflichtet sich das Bewußtsein von Kommunikation oder ist möglicherweise auch außerstande etwas mitzuteilen. Das bewußte Individuum ist somit durchaus befähigt, sich vorkommunikativ seiner Wahrnehmung hinzugeben. Wenn aber das individuelles Wahrnehmungsbewußtsein als solches mittels Zeichen unkommunizierbar ist, dann fällt es aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang (sozialen System) heraus, es wäre unvergesellschaftet. Und genau dies ist der Sachverhalt: die visuelle Kommunikation (22) mittels von Bildern arbeitet mit optischen Informationen, die nicht ausschließlich auf der Ebene von Zeichenbedeutungen (Mitteilungen) sichtbar werden, sondern auch auf der Ebene der Wahrnehmung von Bildern selbst, und hier auch noch höchst abhängig von kulturgeprägten Fähigkeiten des Individuums. Aus diesem Grund kann die visuelle Informationsgewinnung als unvergesellschaftet betrachtet werden, obwohl Individuen und Bilder für gewöhnlich nicht unvergesellschaftet sind. Wie ist dies zu verstehen?

Beispielsweise würde ein unbekanntes Objekt auf einem Bild noch eine Zeichenbedeutung erreichen, wenn es durch Unbekanntheitsbekundungen eingegrenzt wird. Probleme gäbe es, sobald die visuelle Informationsgewinnung im Mittelbezug (Farbe, Form) chaotisch oder natürlich wäre, dann nämlich könnten auch keine Zeichen kommuniziert werden, obwohl etwas gesehen wird, nämlich nichts von einer Zeichenbedeutung. Dieser Fall zeigt: aus dem Sehen selbst entspringt als Fähigkeit der Informationsaufnahme keine kommunizierbare Bedeutung; das Sehen stellt lediglich die Möglichkeit bereit, Bedeutungen der visuellen Kommunikation zu interpretieren, es ist der »vorobjektive Bereich« der visuellen Empfindung, wie Merleau-Ponty [vgl. 1966/31] schreibt. Daß Bilder in Kulturen diese kommunikative Möglichkeit fast fast immer anbieten, verweist einerseits auf die kulturelle Abhängigkeit der Bildproduktion und andererseits auf die visuelle Vertrautheit des Betrachters mit den Möglichkeiten der optischen Darstellung, konkret beispielsweise auf die perspektivische Anschaulichkeit des uns so vertrauten ikonischen Zeichens (scheinbare Ähnlichkeit des Fotos mit dem Objekt) [vgl. Wollheim 1982/117; s.S. 40]. Diese kulturellen Möglichkeiten der Form und Farbe sind es, die uns die Wirklichkeit des Bildes wahrnehmen lassen.

Vor dem bisher unbegründeten Hintergrund, daß sowohl die Wahrnehmung als auch die Produktion von Bildern partiell in kultureller Dependenz steht, kann die visuelle Informationsgewinnung insofern nicht als unvergesellschaftet beschrieben werden, als Kultur und Gesellschaft jedes individuelle Bewußtsein mit ihrem unzertrennlichen Band umgarnen. Als unvergesellschaftet lassen sich Wahrnehmungen aber dort charakterisieren, wo sie sich - wie Luhmann [vgl. 1992/63, 38, 21] hervorhebt - ausschließlich innerhalb des psychischen Systems ereignen, dessen visuelle Informationsgewinnung kaum an kommunikative Zeichenbedeutungen und soziale Systemen orientiert ist. Wenn aber kulturelle Bildformen (scheinbar oder unbewußt) ausschließlich ohne Zeichenbedeutung wahrgenommen werden würden, dann wäre diese visuelle Informationsgewinnung außerhalb sozialer Bedeutungskontexte einem vorkommunikativen Bewußtsein zuzurechnen. Das vorkommunikative Bewußtsein zeichnet sich dann dadurch aus, daß es als Wahrnehmungsbewußtsein die Wirklichkeit für Gegenstandsbedeutungen bereitstellt, ohne als solches in kommunikativen Zeichenbedeutungen aufzugehen. Damit die Kommunikation der Zeichenbedeutungen in Gang kommen kann, muß uns nämlich der optische Aufbau des kulturellen Bildmediums, also eine erste Ordnung, vorkommunikativ vertraut werden. Insofern steht das vorkommunikative Bewußtsein in der Kategorie Zweitheit (Wirklichkeit in der Drittheit) (23). Ohne diese Wahrnehmung bildlicher Codierungen wäre visuelle Kommunikation, die Zeichenbedeutung interpretierbar macht, aussichtslos. "... Jedes Wahrnehmungssystem [muß] für sich die Raum- und Objektwelt, die Körperwelt usw. konstituieren ..." [Roth 1991/363], bevor es in die Kommunikation der Zeichenbedeutungen eintritt. Trotzdem sind Bedeutungen (Bewertungen) und psychische Informationsgewinnung des visuellen Systems auf neuronaler Ebene untrennbar verbunden, wie Roth [vgl. 1991/366] betont. Ein vorkommunikatives Bewußtsein kommt demnach nicht ganz und gar ohne Bedeutungen aus.

Nachdem Implikationen von Bedeutung und Wahrnehmung in groben Zügen umrissen sind, kann dies vom Bewußtsein nicht gesagt werden. Wenn im folgenden das Wahrnehmungsbewußtsein im vorkommunikativen Sinne beschrieben wird, dann muß der von Merleau-Ponty erwähnte »experience error« vermieden werden, "... indem man, was wir von den Dingen wissen, unserem unmittelbaren Bewußtsein von den Dingen zuschreibt" [Merleau-Ponty 1966/23]. Das, was von den Dingen gewußt wird, wird häufig als das beschrieben, was in finalen Interpretanten registriert wurde, aber nicht als das, was nach der Empfindung von Qualitäten [Erstheit] wahrgenommen wurde; d.h., der finale Interpretant geht an dem vorbei, was wir in der visuellen Strukturierung wahrgenommen haben. Auch hier tritt nochmals die Luhmannsche Trennung zwischen Bewußtsein (psychischem System) und Kommunikation (sozialem System) auf. Die Qualitäten (Farbe, Form s.S. 23) werden nämlich nicht selbst als Bedeutung kommuniziert. Um das Wahrnehmungsbewußtsein von Qualitäten zu erläutern, müssen hier phänomenologische Begründungen herangezogen werden. (24)

Wenn man ein Bild betrachtet, sieht man meistens auch »etwas« auf dem Bild; dieses »Etwas« ist normalerweise ein Zeichen, das »etwas« anderes darstellt, z.B. ein Ding oder eine Vorstellung. Das Zeichen erscheint selbst als »etwas«, was für »etwas« anderes steht. Die Frage bleibt jedoch, wie es dazu kommt, daß das Zeichen als etwas gesehen wird, was wir bewußt wahrnehmen. Denn bevor das Zeichen als Zeichen bewußt wird, muß es schon etwas sein, weil es erst dann zu etwas wird, was etwas anderes bezeichnet, wenn es bereits gesehen wurde. Dieses Problem spricht die Phänomenologie von Merleau-Ponty [vgl. 1966] und Husserl [vgl. 1980] an. Bei ihnen ist Bewußtsein immer ein »Bewußtsein von etwas«, von einer Sache, einem Ding, einem Gegenstand, einem Bezug und auch von einem Bild. Zum »Bewußtsein von etwas« gehört, daß es das Fürwahrhalten der gegenständlichen Anwesenheit impliziert, insofern es auf einen Gegenstand gerichtet ist, also auch Bedeutung konstituiert. (25) Demnach tritt auch die Gegenstandsbedeutung als eine Kategorie des Bewußtseins auf. Da aber der Gegenstand Bild in erster Wahrnehmungserfahrung »etwas« ist, was nicht notwendig als Zeichen wahrgenommen werden muß, kann das »Etwas« ein Zeichenmittel oder aber auch ein Gegenstand sein. Der Begriff »etwas« kennzeichnet somit eine erste Unterscheidungsleistung, die das Wahrnehmungsbewußtsein als Zweitheit einer bewußten Seherfahrung herbeiführt.

Worauf es außerdem ankommt, ist die Ebene des Bewußtseins, die vor dem »Bewußtsein von etwas« liegt. Auf dieser vorbewußten Ebene basiert das Moment, welches in der Phänomenologie Merleau-Pontys, der Wahrnehmungstheorie Gibsons bzw. Holzkamps und der Theorie des radikalen Konstruktivismus, grob vereinheitlichend gesagt, als eine kognitive Organisation/Konstruktion von Wahrnehmung erfaßt wird. Sofern wir die kognitive Organisation von Wahrnehmung nicht selbst wahrnehmen können, gehört sie zur Erstheit. Über sie und ihre Möglichkeiten kann nur Spekulatives gesagt werden.

Unter dem Gesichtspunkt der Möglichkeit [Erstheit] für eine Wirklichkeit [Zweitheit] kommt die kognitive Organisation des Sehens vermutlich einer visuellen Konstruktion gleich, in der sich ein »Etwas« bewußt vergegenwärtigt. Und auch Husserl macht hier eine ähnliche Unterscheidung. Er geht davon aus, daß die sinnlichen Stoffe oder Empfindungsinhalte (von Qualitäten) die primären Inhalte dafür sind, ein Erlebnis im intentionalen »Bewußtsein von etwas« zu haben [vgl. Husserl 1980/172 §85].

"»Alle Erlebnisse sind bewußt«, das sagt also speziell hinsichtlich der intentionalen [von Repräsentation begleiteten] Erlebnisse, sie sind nicht nur Bewußtsein von etwas und als das nicht nur vorhanden, wenn sie selbst Objekte eines reflektierenden Bewußtseins sind, sondern sie sind schon unreflektiert als »Hintergrund« da und somit prinzipiell w a h r n e h m u n g s b e r e i t  in einem zunächst analogen Sinne, wie unbeachtete Dinge in unserem äußeren Blickfelde." [Husserl 1980/83f. §45]
Mit der von Rorty [vgl. 1987/35ff.] bemerkten Einschränkung, daß Intentionalität an Repräsentation gebunden ist, deutet Husserl darauf hin, wie in jenem (kognitiven) Hintergrund phänomenale (Bild-)Wahrnehmungen vorliegen, die zumindest ohne Zeichenbedeutung potentiell in ein erlebendes »Bewußtsein von etwas« hinüberschwappen, also zumindest noch ein Erlebnis von Gegenstandsbedeutung und gegebener Anwesenheit erwecken. Merleau-Ponty macht einen Vorschlag zum Wahrnehmungsbewußtsein der Dinge. Er schreibt:

"Nichts ist schwerer zu wissen, als was wir eigentlich sehen. ... Doch wenn es auch das Wesen des Bewußtseins ist, seine Phänomene zu vergessen, um dadurch die Konstitution der 'Dinge' zu ermöglichen, so ist doch diese Vergessenheit nicht eine einfache Abwesenheit, vielmehr die Abwesenheit von etwas, das das Bewußtsein sich zu vergegenwärtigen vermag. M. a. W.: das Bewußtsein kann die Phänomene nur vergessen, weil es sie auch zu erinnern vermag, es geht über sie nur hinweg zugunsten der Dinge, weil sie die Wiege der Dinge sind." [Merleau-Ponty 1966/82]
Merleau-Ponty beschreibt gewissermaßen das Beispiel der Documentabesucher, die die veranschaulichten Dinge sehen und ihnen Bedeutungen zuschreiben, aber nicht mehr wissen, wie es dazu kommt, daß sie das Dargestellte im Bild sehen können. Die "Wiege der Dinge", also der Prozeß der psychischen Konstruktion von Wahrnehmungen, ist durch die Dinge und deren Bedeutung verschüttet. Hier findet sich der blinde Fleck, den wir nicht sehen, weil wir nicht sehen, wie wir sehen, sondern nur, daß wir »etwas« sehen. Augenfälliger gesagt: wir sehen nicht, was wir nicht sehen, da wir den perspektivischen Ausgangspunkt, von wo aus wir sehen, nicht ins Blickfeld bekommen. Was also nicht gesehen werden kann, sind die unsichtbaren, vor dem Bewußtsein liegenden kognitiven Strukturen (26) der Konstruktion von visueller Wahrnehmung und die Kriterien, nach den zwei Empfindungen in Differenz zueinander wahrgenommen werden. Denn erst die Differenz oder Unterscheidung von visuellen Empfindungen (Farben/Formen) ermöglicht die Realität/Wirklichkeit von »etwas« Gesehenem [s.S. 28 (Zweitheit), 28 Fußn. 8 (Zitat Luhmanns)]. Zum Beispiel wird man bei einem monochrom schwarzen Bild nicht vermuten, daß dort schwarz gekleidete Personen bei Nacht illustriert sind. Erst wenn sie vom Hintergrund farblich unterscheidbar sind, können sie tatsächlich als »etwas«, als undefinierbare Einheiten oder Personen erkannt werden. Die Einheit von »etwas« bleibt mit der Fähigkeit des Unterscheidens selbst verbunden.

Daß diese Fähigkeit der Unterscheidung von Einheiten kulturell und lebensweltbezogen differiert, weiß man z.B. von den viel zitierten Eskimos, die vielleicht noch immer viele verschiedene Schneesorten aufgrund ihrer vielen Worte für Schnee unterscheiden. Entgegengesetzt dazu erreichen senegalesische Wolof-Kinder lebenspraktisch eine stärkere Differenzierung von Farben, als ihre Sprache (27) eigentlich hergibt [vgl. Greenfield 1971/336], aber auch Künstler (z.B. Ad Reinhardt) nehmen Farben häufig differenzierter wahr als Nicht-Künstler. Nicht nur die Bedeutungsstrukturen hängen vom Standort und Gesichtspunkten ab, sondern auch die Herausbildung spezifischer Wahrnehmungsfähigkeiten. Und insofern diese Wahrnehmungsfunktion nicht selbst bewußt wird, ist sie dennoch ein vorbewußtes »Ereignis« mit phänomenalen Eigenschaften. Um Bilder und visuelle Kommunikation zu verstehen, darf die Frage nach dem Phänomen des Sehens nicht fortfallen, da wir nur schwer nachvollziehen können, wie wir es gelernt haben, Bilder und Unterschiede/Differenzen wahrzunehmen. Sehen soll deshalb zunächst nicht als Zeichenkonzeptualisierung, sondern als vorkommunikative Sinnesschöpfung, d.h. vom visuellen Sinn her, betrachtet werden. Für diese Untersuchung des Sehens muß man präsent haben, daß die Wahrnehmung für das Individuum selbst im Zeitverlauf nicht dieselbe bleibt, und überdies jedes Individuum (psychisches System) unterschiedliche Wahrnehmungsfähigkeiten erreicht, obwohl kommunizierte, hauptsächlich verbale Zeichen repetitiv gleichartig geäußert werden.

Das Bisherige rekapitulierend, wurden Theorien angesprochen, die die soziale und kommunikative Dimension des Sehens unter der Prämisse des bewußten Wissens um Bedeutung thematisieren. Sehen unter dieser Prämisse ist vermutlich - wie sich zeigen wird - partiell von Kultur inspiriert. In der Weise nämlich, wie die betreffenden Theorien sich zur Wahrnehmung stellen, kann die vergesellschaftete Kultur durchaus die vom Bewußtsein abhängige Wahrnehmung durch Bedeutungen dort beeinflussen, wo sie dem individuellen Bewußtsein Gegenstands- und Zeichenbedeutungen (28) präsentiert, ohne daß das Individuum unbedingt realisiert, welche Wirkung diese Bedeutungen auf seine Wahrnehmung ausüben. Wie sich jedoch gezeigt hat, bleibt in diesen Theorien unbefragt, ob nicht eine visuelle Konstruktion für das Individuum vorherrscht, die sich der Frage einer Gegenstands- oder Zeichenbedeutung aufgrund der Unsichtbarkeit entzieht. Mit anderen Worten, unbefragt bleibt, wie die Wahrnehmung strukturiert sein muß, damit ein »Bewußtsein von etwas« möglich wird, um Bedeutungen und Kommunikation zu interpretieren. Zu diesem Zweck soll das Sehen von Bildern zunächst auf der Ebene der visuellen Wahrnehmung des Individuums untersucht werden. Diese Ebene möchte ich als Erstheit eines visuellen Vor-Bewußtseins kennzeichnen, damit ein Bereich der Möglichkeiten in Betracht gezogen wird, wie und in welcher Weise eine Wahrnehmungspraxis des »Bewußtseins von etwas« [Zweitheit] sich über die Bedeutung eines Gegenstandes oder Zeichens informieren kann.

Gibson vermutet:
"Bedeutung und räumliche Charakteristika sind nicht völlig voneinander zu trennen; Bedeutung ist von Farbe, Form und Textur nicht ganz und gar ablösbar. Symbolische [Zeichen-]Bedeutungen aber scheinen von ihren Gegenständen ablösbar zu sein und sind vermutlich gelernt."[ Gibson 1973/311]
Diese Vermutung verweist darauf, daß das visuelle Vor-Bewußtsein wahrscheinlich über Strukturen verfügt, die nicht nur in der Bedeutung repräsentiert sind, sondern auch im Vor-Bewußtsein von Farbe und Form, also vor dem »Etwas« liegen.

Im Grunde genommen beschäftigen sich die folgenden Kapitel damit, ob, und wenn wie, ein kulturell geprägtes Unbewußtes in der visuellen Wahrnehmung zum Tragen kommt. Sozusagen ist der Stil oder die Struktur gemeint, wie Merleau-Ponty [vgl. 1966/517] es nennt, die mit der Existenz zu existieren beginnt und dem Individuum die »Mittel« und Möglichkeiten gibt, in die Kommunikation bzw. visuelle Kommunikation einzutreten. Ein Indiz für eine kulturgeprägte Struktur findet sich in den wiederkehrenden Formen und Farben von Bildern verschiedener Kulturen und kultureller Epochen. Für eine solche Untersuchung muß jedoch analysiert werden, welchen Abhängigkeiten und Beeinflussungen das visuelle Bewußtsein des Betrachters und des Produzenten von Bildern ausgesetzt ist, um Bedingungen für eine kulturelle Homogenität der bildlichen Gestaltung aufzuspüren. Für Aussagen über die Struktur eines visuellen Bewußtseins ist bisher offen geblieben: 1) inwiefern das visuelle Bewußtsein in der Bildbetrachtung von sprachlich strukturierter Bedeutung in seiner Ordnung bestimmt ist; 2) ob es kraft der Gegenstandsbedeutung des Bildes in seine Struktur gedrängt ist; 3) wie die optische Segmentierung von Bildern es in seiner Struktur bestimmt hat; 4) oder in welcher Weise ein Bewußtsein vorhanden ist, das sich in selbstreferentieller Strukturierung seine Voraussetzungen geschaffen hat. Diese vier Aspekte werden den weiteren Fortgang der Untersuchung bestimmen. Ersichtlich sollte sein, daß die beiden letzten Ungewißheiten bezüglich des Bewußtseins, entgegen der beiden ersteren, nicht die Strukturierung allein durch Bedeutung betreffen, sondern die psychische Eigenstrukturierung der visuellen Wahrnehmung. Wenn diese Punkte geklärt sind, dann zeigt sich auch die soziologische Relevanz, dann nämlich läßt sich ersehen, wie und wann Regeln und "Wahrheiten" im speziellen Fall von Bildern an Kultur, Gesellschaft, Wahrnehmung oder an Lebenstätigkeit des Individuums gebunden sind; und im weiteren wird sich auch verdeutlichen, wie und wann individuelle Bewußtseinskonstruktionen auf soziale Lebenskonzeptualisierungen bezogen bleiben. Daß diese zwei letzten Sätze der Husserlschen Phänomenologie ähneln, ist nicht zufällig, sondern beruht auf den Ausführungen von Brauner [vgl. 1978/96f.].


---Fußnoten----

(17) "Es ist nicht statt seiner ein Bild oder ein Zeichen gegeben. Man unterschiebe nicht dem Wahrnehmen ein Zeichen- oder Bildbewußtsein." [Husserl 1980/79]


(18) Hier ist die uranfängliche Wahrnehmung gemeint, die nicht das Ergebnis kritischer Einstellung oder vorgängiger Synthese ist [vgl. Merleau-Ponty 1966/282].


(19) Luhmann, Morris [vgl. 1934/18] Ciompi [vgl. 1992/146ff., 173] und die These von Willard van Orman Quine [vgl. 1980/37ff.] gaben bereits den Hinweis, "... daß Sprachlernen ohne nichtsprachlichen Hinweis auf Dinge der Außenwelt nicht möglich ist und die Sprache deshalb auch nie ganz aus sich selbst heraus Realität konstruieren kann" [Luhmann 1990/56]. Ebenfalls trifft für Bilder zu, daß sie einem Individuum ohne Wirklichkeitserfahrung und deiktische/indizierende Zeichen [Zweitheit] keine Realitätsvorstellungen [Drittheit] skizzieren werden.


(20) "Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen. Er setzt die gegebene Welt voraus, bezeichnet also nicht das Mögliche überhaupt, sondern das, was von der Realität aus gesehen anders möglich ist. In diesem Sinne spricht man neuerdings auch von »possible world« der einen realen Lebenswelt. Die Realität dieser Welt ist also im Kontingenzbegriff als erste und unauswechselbare Bedingung des Möglichseins vorausgesetzt." [Luhmann 1987/152]
"Zum Unterbau, der im Theorem der doppelten Kontingenz vorausgesetzt ist, gehören hochkomplexe sinnbenutzende Systeme, die für einander nicht durchsichtig und nicht kalkulierbar sind. Dies können psychische oder soziale Systeme sein. Wir müssen von deren Unterschied einstweilen absehen und sprechen deshalb von »black boxes«. Die Grundsituation der doppelten Kontingenz ist dann einfach: Zwei black boxes bekommen es, auf Grund welcher Zufälle immer, miteinander zu tun. Jede bestimmt ihr eigenes Verhalten durch komplexe selbstreferentielle Operationen innerhalb ihrer Grenzen. Das, was von ihr sichtbar wird, ist deshalb notwendig Reduktion. Jede unterstellt das gleiche der anderen. Deshalb bleiben die black boxes bei aller Bemühung und bei allem Zeitaufwand (sie selbst sind immer schneller!) füreinander undurchsichtig." [Luhmann 1987/156]


(21) Symbol- (Sprach-) Bedeutung bei Holzkamp erreicht nicht die begriffliche Weite der bisher genannten Zeichenbedeutung, weil das Symbol und das ikonische Symbol nicht alle Formen des Objektbezugs kennzeichnen [vgl. Holzkamp 1973/25 u. 148].


(22) Hier muß ich dem Kap. 2.4. "Warum ist Wahrnehmung keine Kommunikation ...?" vorgreifen, indem hier schon Information als sensuelles Ereignis (psychischer Informationsgewinnung) im Unterschied zur Nachricht als kommunikatives Ereignis aufgegriffen wird [s.S. 108].


(23) S.S. 31 Bewußtsein ist selbst eine Drittheit, da der Mensch im Sinne der Erst-, Zweit- und Drittheit auf Gegenstände reagiert.


(24) Selbst Luhmann versucht Phänomenologie mit Systemtheorie zusammenzuführen [vgl. Luhmann 1987/153ff.]


(25) Vgl. die sprachanalytische Untersuchung von Ernst Tugendhat [vgl. 1976/102f.], in der er sprachanalytisch zeigt, daß "Bewußtsein-von-etwas" immer in dem Fürwahrhalten eines Existenzsatzes fundiert ist. Dennoch räumt Tugendhat ein, daß dies für vorzeichenhafte Bewußtseinsweisen nicht gilt. "Aber das Bewußtsein kann sich desselben Gegenstandes, das ihm durch das Zeichen vergegenwärtigt wird auch ohne das Zeichen bewußt sein" [Tugendhat 1976/180].


(26) Als eine »kognitive Struktur« des psychischen Systems verstehe ich ein unspezifisches, aber organisiertes System von Transformationen früherer Wahrnehmungen und Erfahrungen [vgl. Neisser 1974/358ff.].


(27) Vgl. auch H. und B. Bayer, die in materialistischer Perspektive davon ausgehen, "... daß alle Arten der Sensibilität von der praktischen Tätigkeit abhängen, bei der sie entstanden sind ..." [Bayer 1980/262f.]. Dementgegen verweist Barbara B. Lloyd [vgl. 1972/42] darauf, daß in der Sprache der Zuni die Farben Gelb und Orange in einer Kategorie erfaßt werden, und demzufolge keine Differenz wahrgenommen wird, weil die Sprache diese Realitätskonstruktion nicht bietet.


(28) "Wahrscheinlich gibt es eine 'embryonale Bedeutung', die mit einer 'embryonalen Wahrnehmung' einhergeht" [Gibson 1973/305]. Folglich kommen vermutlich ungelernte Bedeutungen vor, dennoch ist jene "embryonale Bedeutung" keiner kommunikativen Zeichenbedeutung gleichzusetzen.


   2.2. Kann Sehen Sprache sein, und warum figurieren Bilder nicht ausschließlich wie Zeichen? Inhaltsverzeichnis   Anfang
 
Gewiß ist einsehbar, daß dem jetzt folgenden Kapitel die sprachphilosophische Untersuchungen, die die Verflechtungen von Sprache, Zeichen, Denken und Sehen ermitteln, im Zusammenhang mit Bildern zu fern liegen, als daß sie hier gründlich erörtert werden könnten. Die verhältnismäßig mühelose Bildbetrachtung macht zumindest deshalb von sich reden, weil ihre patrouillierende Erkundung des Bildes niemals vollständig durch Worte ersetzt oder gar übersetzt werden kann. Nicht zu jedem Bild gibt es verbale und andere Ausdrücke, und nicht zu jedem Ausdruck gibt es ein Bild. Beispielsweise ringen Nachrichtenredaktionen des Fernsehens täglich darum, passende Bilder zu Worten zu finden, um die rabiate Ambition audiovisueller Technik einzulösen. So halten Redakteure manche verbalisierten Nachrichten zurück, wenn ihnen deren ikonische Illustration des Zeitgeschehens fehlt oder zu unspektakulär scheint. Auf der anderen Seite bleiben Bilder sozusagen postlagernd zurück, weil sie von Sprache nicht abgeholt werden können. Wo diese sprachliche Abholung der Botschaft am unübersichtlichsten scheint, stehen Bilder oft in Kunstkontexten. Denn künstlerische Bilder halten dem Ersatz durch Worte stand, weil jedes Wort zwar die Bilderfahrung zum Verschwinden bringt, aber nicht das Bild. Andererseits geht die Motivation, ein Bild für die bildende Kunst oder für Televisionsanstalten zu produzieren, oft aus der Sachkenntnis hervor, daß für Bilder adäquate Worte unauffindbar sind, die das gleiche zeigen und als Erlebnis erzeugen. Bilder zeigen in den häufigsten Fällen etwas, wofür es an adäquaten Worten mangelt und selten etwas, wofür auch Worte stehen könnten.

Jene vagen Verwendungsbeziehungen von Sprache und Bildern beschreiben bisher wenig. Wie unterscheiden sich diese beiden zunächst formal voneinander? Für den Begriff der »Sprache« definierte Morris [vgl. 1973/113f.] fünf Kriterien, die für Bilder hier im Widerspruch aufgenommen werden. Erstens setzen sich bildliche Zeichen nicht aus einer Vielzahl von Zeichen im ikonischen Sinne zusammen; ein Bild, d.h. die visuell wahrnehmbare Bildfläche, bietet sich oftmals in einteiliger Singularität dar, obwohl es in der syntaktischen Form in variierter Replikation zu anderen Bildern steht. Dagegen inszenieren Individuen Sprache, indem sie auf eine Sammlung von symbolischen Zeichen zurückgreifen. Zweitens verfügen ikonische Objektbezüge selten über interpersonale Bedeutungen, die von Mitgliedern einer Interpretengruppe relational übereinstimmend nachvollzogen werden. Bilder bezeichnen etwas o h n e jegliche Bedeutungsstabilität. Verbale Symbole führen zumindest in gewissem Grad zu übereinstimmendem Bedeutungsverstehen. Drittens sind Bilder und Sprache von Mitgliedern der Interpretengruppe in der Syntaktik interpersonal herstellbar, obwohl selten g l e i c h e Signifikationen semantischer Objektbezüge anzutreffen sind, wie in der symbolischen Sprache. Viertens können Bilder zwar plurisituationale Zeichen sein, oft - eigens in Massenmedien - signifizieren sie aber unisituational, weshalb dasselbe Bild in anderer Konstellation selten nochmals anderes bezeichnen kann. Sprache bezeichnet mit relativer Signifikationskonstanz unterschiedliche (Wahrnehmungs-)Situationen. Fünftens verlaufen Bildzeichen in keiner restriktiven Codierung, die sich aus wechselseitig verbundenen Zeichen konstituiert und vordefinierte Ausdruckskombinationen vorgibt. Außerhalb poetischer Kunstformen geben Sprachcodierungen alltäglicherweise Einschränkungen vor, die die Sprachgemeinschaft bei Mißachtung sanktioniert. Eine ikonische Bildgemeinschaft ist in puncto Bildvariationen und -kombinationen oft aufgeschlossen, doch existieren z.B. syntaktische Restriktionen für bildlichen Realismus. Wenn Sprache dadurch zu ihrer Bestimmung gelangt, daß sie über interpersonale Signifikationen (Symbole) verfügt, die in einer Interpretengruppe zu halbwegs signifikanten Bedeutungen gelangt, dann grenzen sich Bilder davon ab. Bilder stellen meist personalisierende Signifikationen (Ikons) dar, die ohne sprachliche Unterstützung kaum zu interpersonalen Bedeutungen gelangen. Sprache und Bilder haben formal nur eins gemeinsam: beide basieren auf einer kulturellen Darstellungsregel oder Syntaktik. Alle diese Behauptungen klären sich eingehender im weiteren Verlauf.

Diese formalen Überlegungen lassen zumindest Unterschiede zwischen Worten und Bildern in den jeweiligen Verwendungsweisen bemerken. Die per Bild vermittelte Informationsmenge ist in kurzer Zeit nicht nur wesentlich komplexer als die von Worten, sondern sie ist tatsächlich eine gänzlich andere, worin sicherlich ein Impuls des Überlebens dieser unersetzbaren Kommunikationsweise liegt. Im weiteren übermittelt die an Worte gebundene Sprache Nachrichten, die vom Hier und Jetzt des sinnlich Gegebenen oft gelöst und im operationalen Denken, d.h. in verallgemeinerter Struktur eines kognitiven Plans, vergegenwärtigt werden. Die aus Bildern gewonnenen Informationen werden indessen in ihrer Eigensinnlichkeit direkt vom Auge verfolgt, also kraft des Wahrnehmungssystems vergegenwärtigt, gerade weil Bilder etwas mitteilen, was vom sinnlich Gegebenen unablösbar ist. Um es auf den Punkt zu bringen, der Unterschied ist folgender: bei Worten ist die geforderte Fähigkeit mehr das operationale Denken; bei Bildern ist es mehr das Wahrnehmungssystem. Unabhängig von interpretierten Bedeutungen ihrer Bezeichnungen ermöglichen Bilder bereits ein sensuelles Erlebnis ihrer Objektbezüge [hierzu Wersig 1986/57]. Sprache vermag ihren symbolischen Objektbezug, ihr Signifikat nahezu nie sensuell erfaßbar vorzubringen. Daher finden sich Bilder niemals vollständig im Gehege der Sprache ein. Ihre ikonische Informations- "... Dichte ist das (von der verbalen Sprache aus gesehen) Leerste am Bilde ..." [Boehm 1978/463]. Aufgrund der Leere ikonischer Fülle könnten diejenigen, die in Spracherwartungen meinen, man sollte Bilder von linguistischen Sprachtürmen aus zur »sprachlosen Sprache« paradoxieren, schon jetzt dorthin mitkommen, wo Bilder sich in ihrer »sprachlosen Nichtsprache« entparadoxieren.

Unwidersprochen folgen der Anschauung von Bildern häufig Gedanken, die von einer verbalsymbolischen Sprachlichkeit inspiriert sind und die sich in Wortkonzepten artikulieren. Das Sehen von Bildern bleibt somit nicht gedankenlos; der Betrachter von Bildern, insbesondere von Gemälden, gibt sich bei fixierten Ansichten der Suche nach Deutung oder Reflexion hin, die beide nach Fellmann seitenzahl (29) die einzigen Möglichkeiten sein sollen, dem Anblick des unbewegten Bildes standzuhalten. Aber auch diese sicherlich oft zutreffende Behauptung täuscht nicht darüber hinweg, daß das Sehen nicht allein aus seinen Prämissen im Denken erzeugt ist. Merleau-Ponty verdeutlicht den Sprache werdenden Blick:
"Das Denken des Sehens vollzieht sich nach einem Programm und einem Gesetz, das es sich nicht selbst gegeben hat, es ist nicht im Besitz seiner eigenen Prämissen, es ist kein ganz gegenwärtiges, ganz aktuelles Denken, es trägt das Geheimnis einer Passivität in sich. Die Situation ist demnach folgende: Alles, was man über das Sehen sagt und denkt, macht aus ihm ein Denken." [Merleau-Ponty 1967/28]

Ebenfalls stützt Ciompi diesen unbedachten Wahrnehmungsraum, indem er Sprache und operationales Denken als ein  S y m p t o m  des Bewußtseins in der kognitiven Entwicklung begreift. "Die präverbale »Logik des Tuns« [und »die konkrete Aktion«] geht ihrem Ausdruck in irgendeiner Zeichensprache lange voraus" [Ciompi 1992/142f.]. Die Unterscheidung zwischen Gegenstands- und Zeichenbedeutung hatte gezeigt, daß sich an beiden Bedeutungskonstituierungen ein »Bewußtsein von etwas« beteiligt [s.S. 58, 67]. Bedeutung von etwas ist jedesmalig ein wirksames Bewußtseinsphänomen. Die Vollendung der Zeichentriade - Ciompi nennt sie ähnlich wie Piaget Semiotik - seitenzahl (30) geht jedoch über das ursprüngliche Bewußtseinserlebnis des wahrgenommenen Gegenstandes hinaus. Denn die finale Semiotisierung von Gegenständen kommt erst dann zur Geltung, wenn "... der Zusammenhang von [visueller] Information über diachron in Raum und Zeit ablaufende Geschehnisse (bzw. Aktionen und Erlebnisse) einen so hohen Grad an Kompaktheit erreicht hat, daß sie in eine einzige »Vorstellung«, und damit auch in ein knappes »Zeichen« komprimiert zu werden vermag" [Ciompi 1992/157]. Deutlicher formuliert: vollständige Zeichen entstehen als ein Symptom des Bewußtseins. Erst solche konzeptualisierten Zeichen ermöglichen ein operationales Denken, Sprechen, Veranschaulichen und Kommunizieren von etwas Abwesendem. Wenn man nicht meint, die Zeichen würden der Erfahrung entsprechen, läßt sich hier Schütz [vgl. 1974/170] dahingehend interpretieren, daß jede Zeichencodierung einen Rahmen bietet, unsere Erfahrungen einzugliedern, also die Symptome des Bewußtseins für verbal oder visuell kommunikative Zwecke zu ordnen.
Individuen konzeptualisieren Zeichen auch unabhängig von soziokulturellen Verwendungsweisen. Dies untermauern beispielsweise Furths [vgl. 1972/41f.] Beobachtungen von gehörlosen Kindern. Diese, so schreibt Furth, entwickeln einen kognitiven Plan von individuell motivierten Zeichen, die interpersonal verständlicher Sprache enthoben sind. Darum bindet sich das in Zeichen operationalisierte Denken keinesfalls notwendig an die verbale Sprache einer Kommunikationsgemeinschaft. "Intelligentes Denken ist nach innen gerichtet, wenn es symbolisches Verhalten zur Folge hat, das durch subjektiv motivierte Zustände gelenkt wird" [Furth 1972/230]. Zeichen, Furth nennt sie Begriffe, verraten, daß der Mensch eine Vorstellung von einer Bedeutung entwickelt hat. So kann der Mensch Vorstellungen von Bedeutungsebenen besitzen, ohne daß diese Zeichen in der Spur einer kulturellen Sprachcodierung laufen. Insbesondere ikonische Objektbezüge verweisen auf eine individuell motivierte Bezeichnungsform, die zwar partiell einem symbolisch-begrifflichen Schematismus folgt, die aber dennoch nicht der kulturell gesprochenen Sprache vergleichbar ist [vgl. Piaget 1978/483, 502; Furth 1976]. Symbolisch-begrifflich heißt hier lediglich, daß ein Individuum ein individuelles Bezeichnungskonzept konstruiert hat, dem eine individuell motivierte und auch emotionale Bedeutung beigeordnet ist, wie z.B. ein Porträt der geliebten Mutter. Ikonische Objektbezüge folgen in einer Reihe von Merkmalen jenen individuell motivierten Bezeichnungskonzepten mit interpretativ offenen und emotionalen Bedeutungsbildungen; dazu jedoch später.

Auch in bezug auf die Wahrnehmung zeigt die beobachtbare Alltagserfahrung von Kindern, daß sie ein ehemals visuell wahrgenommenes Objekt wiedererkennen, also eine Gegenstands- oder Zeichenbedeutung erkennen, obwohl sie noch kaum über Mittel verfügen, um symbolische Objekte kommunikativ zu artikulieren. Dieser Vorgang liefert nach Neissers [vgl. 1974/178] Meinung den Beweis dafür, daß visuelle Information unabhängig von Einflüssen der verbalen Sprache gespeichert wird. Die kindliche Alltagserfahrung stützt demnach die Annahme eines vorsprachlichen Bewußtseins und "nichtverbalen Speichermediums". Sprache ist daher für visuelle Wahrnehmung keine unausweichliche Voraussetzung. Vielmehr werden Strukturen der visuellen Welt in antizipierten Schemata konstruiert, "... die den Wahrnehmenden darauf vorbereiten, bestimmte Arten von Information eher anzunehmen als andere, und die so das Sehen steuern" [Neisser 1979/26]. Zeichen und kommunikative Konzepte der figurativen Darstellung von etwas folgen erst einer erfolgreichen Gegenstandswahrnehmung.
Sofern Zeichen zumindest anfangs auf Wahrnehmungserfahrungen aufbauen, bestätigt auch dies die grundsätzliche Differenz zwischen Zeichen- und Gegenstandsbedeutung. Die menschliche Wahrnehmungserfahrung wäre verkannt, wenn man wie Faltin [vgl. 1985/3f.] meinen würde, der Mensch könnte ohne Begriffe und Zeichen keine erfahrenen Bedeutungen entwickeln oder bemerken. Trotz dieser Behauptung räumt Faltin selbst eine Ausnahmestellung ein. Ähnlich wie Sauerbier entdeckt er bei der Wahrnehmung von ästhetischen Zeichen/Gegenständen eine schöpferische Bedeutungskonstituierung, die die Gegenstandserfahrung erst durch einen schöpferischen Vorgang in eine Zeichenbedeutung überführt, wie z.B. "... bei der Semiotisierung von Dingen oder Vorgängen in Arte Povera, Fluxus-Events und -Objekten, Ereignissen und Objekten des Nouveau Réalisme" [Sauerbier 1989/345; vgl. Faltin 1985/62].

Offenbar, sofern man sich entsprechende Theoretiker herbeizitiert, ist es vom wahrnehmungspsychologischen, als auch vom kunsttheoretischen Standpunkt her zutreffend, die Bildbetrachtung als eine aufzufassen, die tatsächlich unabhängig von abstrahierendem Denken, Sprache und Zeichenbedeutung temporär aktualisierbar sein kann. Dinge und Bilder ermöglichen ihre optische Wirksamkeit zwar nicht unabhängig von individuellen Voraussetzungen, aber sie ermöglichen Wahrnehmungen unabhängig von konzeptualisierten Zeichen einer Kommunikationsgemeinschaft. Bilder lassen sich als ein Gegenstand wahrnehmen, der zwar etwas zeigt, was er nicht selbst ist, der aber nicht etwas zeigt, was ausschließlich kraft Sprache zu verstehen wäre. Gegenstandserfahrung bzw. Wahrnehmung disponiert die Wirklichkeitsbedingung von Bildern, in denen sich etwas vorsprachlich und zeigen kann [hierzu, trotz knapper Begründung: Berghaus 1986]. Wie begründet sich diese Schlußfolgerung?

Eine empirische Begründung eines vorsprachlichen Bilderkennens bieten Maturana u. Varela [vgl. 1987/243ff.] mit dem Hinweis auf Patienten, deren Epilepsie mit einer Durchtrennung des Balkens (Corpus callosum) zwischen rechter und linker Hirnhälfte eingeschränkt wurde. Solchen Personen ist es nach Maturana völlig unmöglich, mit der rechten Hemisphäre gesprochene und geschriebene Sprache zu verstehen. Sie verstehen Sprache ausschließlich in der linken Hemisphäre. seitenzahl (31) Unter einer speziellen Versuchsanordnung, die nur die rechte Hemisphäre anspricht, wurde den Patienten - ich nehme an, sie waren männlich - die bildliche Darstellung einer nackten Frau vorgeführt. Infolge dieses Bildes erröteten Versuchspersonen oder reagierten verlegen, ohne eine für den Beobachter adäquate Erklärung ihrer Reaktion zu haben.

"So sagt sie [die Person] vielleicht nur (wie tatsächlich geschehen): «He Doktor, da haben Sie aber einen schlimmen Apparat!» Hier ist folgendes geschehen: Das erotische Bild wurde der rechten Hemisphäre präsentiert, der Patient antwortet auf unsere Fragen aber über die linke Hemisphäre, die als einzige Sprache erzeugen kann und die das Bild nicht «gesehen» hat. Alles, was die linke Gehirnhälfte tun kann, ist auf eine Weise zu antworten, die sich aus ihrer Verbindung mit dem Rest des Nervensystems und des Körpers ergibt. Dort finden die Aktivitäten von Erröten und Verlegenheit statt, die durch die rechte Gehirnhälfte erzeugt wurden." [Maturana u. Varela 1987/247]
In diesem Beispiel ist es jenem Menschen erstens möglich, auch unabhängig von sprachlichen Formulierungen auf ikonisch Gezeigtes zu reagieren. Und zweitens bekräftigt jenes Experiment, daß abstrahierendes Denken ohne verbale Sprache von einem Individuum als Bedeutung realisierbar ist, denn das Bild konnte im ikonischen Objektbezug emotional interpretiert, also gefühlsmäßig gedeutet werden [vgl. Maturana 1972/30; Pöppel 1985/157]. Eine Besonderheit bleibt: das Bild war ein Zeichen, obwohl es nicht als Zeichen interpretiert wurde, sondern als ein Gegenstand (schlimmer Apparat). Den Unterschied zwischen Zeichen und Gegenstand übersah jener getäuschte Betrachter. Er hatte das Bild nicht als Zeichen für etwas anderes betrachtet, sondern direkt auf das in der Wahrnehmung Interpretierte reagiert. In diesem Sinne ist Wahrnehmung bereits selbst die erste Stufe der Interpretation eines Bildgegenstandes. Visuelles Wahrnehmen und visuelles Erkennen sind ein und dieselbe Handlung [hierzu Zeki 1992/63]. Ohne adäquate Wahrnehmung oder sinnliche Erkenntnis der optischen Struktur hätte der betreffende Betrachter nicht mit Verlegenheit reagieren können.

Ähnliches wie in dem angeführten Beispiel von Maturana kann genauso jedem anderen passieren, falls er ein Bild nicht als Zeichen versteht, sondern infolge einer Augentäuschung das Bild mit der möglichen Wirklichkeit verwechselt. Solange, wie jemand auf solch ein Trompe-l’œil hereinfällt, hat er das Bild nicht als Zeichen verstanden, gleichwohl er es als Gegenstand direkt wahrgenommen hat, wenn auch nur als virtuellen Gegenstand, den der ikonische Objektbezug des Zeichens simulierte. Um dennoch dem modischen Simulationsgedanken seitenzahl (32) vorzubeugen, versteht gewiß trotz allem jeder Bilder spätestens dann als Zeichen, sobald er aufsteht und seine Wirklichkeit verändert oder die Frau (den Apparat) in dem Beispiel von Maturana zu küssen versucht. Selbst in einem Panoramabild oder Film finden wir uns mit einem Realitätsprinzip ein, das uns zumindest erinnern läßt, daß vertraute Kommunikationsmedien, die uns mögliche Wirklichkeiten simulieren, vollkommen Ungefährliches für Leib und Leben darstellen. Echte Simulation simuliert keine zeichenhafte Realität [Drittheit], sie simuliert Wirklichkeit [Zweitheit]. Deshalb muß man schmunzeln, wenn Bolz [vgl. 1993/149, 105] meint, die alte, bildliche Gegenständlichkeit kann der neuen virtuellen Realität nur störend dazwischenfunken, weil deren phantasierte Bilder nicht mehr Wirkliches (Reales) repräsentieren wollen. Doch befreien sich auch virtuelle Realitätsdarstellungen nicht schon dann von ihrer zeichenmöglichen Lüge, wenn sie Wirkliches (Reales) in desillusionierter Täuschung der Zeichen lügen, sie bleiben darstellende Zeichen. Virtuelle, simulierte oder bildliche Realitätsdarstellungen sind allesamt Zeichen, die praktische oder unpraktische Karten für (soziale) Orientierung liefern. Das alltägliche, wissenschaftliche und pragmatische Realitätsprinzip, dem apodiktische »Wahrheit« über Reales fehlt, läßt sich von virtuellen Realitäten kaum plausibel in seiner semiotischen Konstruktion unterscheiden, obwohl das letztere Orientierungsinteresse, das unsere Weltkonstruktion vermeintlich zu verlassen meint, vermutlich irritierendere Karten für die Koordinierung in einer irdischen Wirklichkeit bietet. Mit der Erörterung von Entpragmatisierung komme ich darauf zurück [s.S. 225].

Zum Realitätsverlust führen virtuelle Realitäten nur in Ausnahmesituationen. Einen solchen Verlust erfährt ein Individuum dann, wenn diesem erstens Wirklichkeiten mit deren Bezeichnungen permanent zusammenrücken, und ihm zweitens die Erinnerung an Wirklichkeiten ehemalig erfahrener Gegenstände verlorengeht. Zumindest den ersten, also unvollständigen Fall, erträumen sich manche für die Zukunft. Wenn es irgendwann möglich sein sollte, virtuelle Realitäten im Cyberspace so perfekt zu simulieren, daß absolut kein Unterschied zwischen alltäglich wahrnehmbarer und virtueller Umwelt bemerkbar wäre, dann würde diese simulierte Umwelt auf keinen Fall ein Bild von einer Wirklichkeit vorführen, sondern sie würde den Beobachter in eine fiktive Wirklichkeit entführen. Die unsachgemäße Anwendung von Cyberspace wäre dann imstande, einer technischen "Droge" gleichzukommen, die wie LSD oder Heroin einem Individuum als sogenannte »Cybernauten« eine Realitätsbewältigung fiktiv vorgaukelt bzw. überhaupt erst ermöglicht. In diesem Zusammenhang ist es schon ein wenig auffällig, wenn eine Gesellschaft die vom Individuum täglich wahrzunehmende Zeichendosis deshalb erhöht, weil mit den beständig weiterentwickelten Zeichen- bzw. Bildcodierungen die Wirklichkeit besser zu bewältigen sein soll, obwohl sich gerade infolge steigender Dosis die gesellschaftlichen Überlebensrisiken mit gleicher Wucht steigern. So denkt der journalistische "Cyber-Punk" Howard Rheingold, daß bei einer Bevölkerung von 10 Milliarden Menschen virtueller Techno-Sex "... vielleicht kein schlechter Ort [ist], um dem größten Teil der Bevölkerung den größten Teil der Zeit über relatives Glück zu ermöglichen" [Rheingold 1992/539]. Ein solch körperloser Mensch, der sein intimes Glück in die Platinen computerisierter Schaltmomente einschreiben darf, wird sowohl um eine soziale Realität gebracht als auch um die Erfahrung einer mit seinem Gegenüber teilbaren Wirklichkeit. Zweifellos erkennen wir mit unserem Körper auch nur eine unter anderen Wirklichkeiten, aber der Vorteil dieser interpersonal verwandt bleibenden Wirklichkeitskonstruktion ist, daß sie zwischenmenschliche Kommunikation zu tragen vermag. Und dennoch verdeutlicht die Idee der Cyberspace-Technik eine Tendenz heutiger naturwissenschaftlicher Forschung. Denn als verstanden will all das gelten, wie z.B. in der Gentechnik, Medizin oder Chemie, was in synthetischen Wirklichkeiten hergestellt werden kann. Es bleibt selbstverständlich mehr als fraglich, ob wir Wirklichkeiten von uns selbst und Gegenständen verstanden haben, wenn wir sie im Cyberspace simulieren können.

Auch wenn es für Gesellschaften unmöglich wäre, so würden doch Individuen in einer absolut seitenzahl (33) perfekt simulierten Umwelt Zeichen nicht mehr als Zeichen wahrnehmen, sondern als Gegenstände einer ganz anderen Umwelt erfahren und bewältigen. Mit einem Satz von Mihai Nadin: "Wenn alles Zeichen ist, dann ist nichts mehr Zeichen." seitenzahl (34) Demnach läßt sich keiner von virtueller Umwelt täuschen, solange sie weiterhin als bildliches Zeichen verstanden oder erinnert werden kann, da es Zeichen inhärent ist, daß sie Wirklichkeiten überschreiten. Perfekt simulierte Virtualität kann kein Bild sein, unperfekte indessen schon. Jedes bildliche Zeichen erinnert daran, daß es ein Bild von »etwas« und nicht dieses »Etwas« selbst ist. Allein infolge dieser Unterscheidung, die ein unterrichteter Betrachter macht, ermöglicht ihm das Bild Verhaltensweisen, die ihn in der Alltagswirklichkeit oder in perfekt simulierter Virtualität in die Bredouille führen würden. Beispielsweise erwecken pornographische Fotografien bei ihrem Betrachter gerade deshalb ungeniert sexuelle Bedürfnisse, weil das zeichenhaft dargestellte Lustobjekt keine auf den Betrachter bezogene Interaktionsdynamik entwickelt, wie es sich nämlich in Wirklichkeit und auch in virtueller Wirklichkeit ereignen würde [hierzu Buddemeier 1981/152f.]. Gerade aufgrund dieser gewollten Abwehr von tatsächlicher Nähe, vor der der "Bildschirm" schützt, ist es unglaubwürdig, daß perfekt simulierte Wirklichkeiten (z.B. Flugsimulationen) eine ähnliche Wirkung wie Bilder erlangen. Denn körperlich erfahrene Wirklichkeit, sei sie tatsächlich oder simuliert wirksam, wird weder als Zeichen noch als Bild erfahren, solange sie als die einzig erfahrene Tatsächlichkeit wahrgenommen wird. Daher sind perfekte Simulationen, die ihren Zeichencharakter restlos verbergen, völlig ungeeignet für visuelle Kommunikation. Die virtuelle Verdoppelung der Wirklichkeit enthält sich jeglichen kommunikativen Werts. Sie teilt Wirklichkeiten unreduziert mit. Allerdings besteht die Wahrscheinlichkeit, daß virtuelle Wirklichkeiten als ein Aktionsraum verstanden werden, wo jemand mit dem Wissen einsteigt, daß jetzt die Verletzung kultureller Werte und Normen unsanktioniert ermöglicht ist, wie z.B. in Kriegssituationen, in denen sich an Frauen ohne moralische Gewissenshürden vergangen wird. Optische Computerspiele deuten darauf hin, daß unterdrückte Angst, verdrängte Sexualität und Autoritätsfurcht am leichtesten in Ausnahmezuständen und Phantasieräumen Entlastung finden.

Sofern man sich selten von einem Trompe-l’œil und perfekt simulierten Virtualitäten täuschen läßt, könnte man meinen, daß Bilder immer wie Zeichen erfahren werden. Diese Auffassung läßt sich aber nur solange aufrecht erhalten, wie man verleugnet, daß Bilder ausnahmslos mittels Gegenständen vorkommen oder zumindest Gegenstandscharakter haben. Wenn das Bild selbst »etwas« ist, dann ist es dies als dinglicher Gegenstand im Raum. Bilder, die nicht auf irgendeine Art und Weise materiell vorlägen, wären nicht sichtbar, weil visuelle Reizungen mit Lichtenergie keine Wahrnehmung verwirklicht. Ausschließlich Licht, das "ungeformt" ist, ist kein Wahrnehmungsmedium; erst die vom unsichtbaren Medium Licht erleuchtete, materielle Form ist sichtbar [vgl. Gibson 1982/56f.]. Insofern erzielen auch vom Laserlicht erzeugte Luftbilder aufgrund der Schwebeteilchen Sichtbarkeit. Deshalb gehe ich davon aus, daß Bilder selbst konkrete Gegenstände sind. In diesem gegenständlichen Sinne sind Träume, gedankliche Vorstellungen, Einbildungen, Halluzinationen, Hirngespinste und die Sternchen, die die Faust aufs Auge flimmern läßt, keine Bilder, sondern Metaphern für bildhafte Bewußtseinskonstruktionen, an denen niemand aufgrund ihrer externen Immaterialität visuell kommunikativ Anteil nehmen kann. Und ebenfalls sind bildhafte Übertragungen symbolisch gemeinter Ähnlichkeiten, also sprachliche Metaphern keine Bilder, weil ihr symbolischer Objektbezug für optische Erfahrungsweisen und damit für visuelle Kommunikation unsichtbar ist.

Wenn Bilder keine wahrnehmbaren Gegenstände wären, lösten sich die Diskussion über Bildwahrnehmung in nichts bzw. in sprachliche Zeichen auf. Im körperlichen Umweltkontakt kommt das zeichentragende Bild als ein Gegenstand vor, der in der Wahrnehmung erfahren wird, ganz egal ob die veranschaulichten Objekte - z.B. Einhörner oder Atome - existieren oder nicht. Das Bild ist tatsächlich immer direkt wahrgenommene Wirklichkeit. Wenn ich ein rotes Bild sehe, reagiere ich nicht, weil Rot in der referierten Wirklichkeit erfahrbar sein könnte, sondern weil das Rot des Bildes als solches für mich in der Wahrnehmung als Rot existiert und wirksam ist. Das Rot des Bildes bezeichnet nicht nur Rotes, sondern ist in seiner Röte präsent. Hinsichtlich dieser Ursache des Rötlichen ist es nicht einerlei, ob ich sich gleichende ikonische Zeichen im Medium des Fernsehens, der Kinematographie, der Fotografie, der Holographie oder der Ölfarbe sehe. Die Wahrnehmungserfahrung von Bildgegenständen kann deshalb nicht sinnlos sein. Sinnlosigkeit erreicht schlimmstenfalls das, was vor oder nach der Erfahrung gedacht wird; "Sinnlosigkeit ist [deshalb] ein Spezialphänomen ... der Zeichen und besteht in der Verwirrung von Zeichen" [Luhmann 1987/96]. Erfahrungen werden erst dann sinnlos, wenn nichts wahrgenommen wird, und selbst das wird fraglich, wenn jemand Meditation betreibt. Erfahrung erreicht somit selbst einen Sinn, der sich nicht in gedachten Vorstellungen oder in der Codierung schön/häßlich erfüllt. Die offene Wahrnehmung beinhaltet selbst keine intentional wertende Entscheidungsinstanz, sie nimmt keine Sinnlosigkeit wahr und konstruiert kontinuierlich unnegierte Wirklichkeit. Welchen Sinn Wahrnehmung konstruiert, wird sich klären.

Wenn Bildgegenstände eine direkte Wahrnehmungserfahrung verursachen, was ist dann mit dem, was die Zeichen zum Ausdruck bringen? Werden Zeichen mit Gegenständen verwechselt, so zeigte das Trompe-l’œil, sind Bilder als Zeichen unverstanden. Wie Josef Simon bemerkt, machen wir den Unterschied zwischen Gegenstand und Zeichen, insofern wir etwas nicht "unmittelbar" verstehen [vgl. Simon 1989/76]. Was wir an einem Bild nicht "unmittelbar" oder besser direkt verstehen können, sind die Zeichen; denn die Zeichen sind Mittel, die vermitteln, was verstanden werden soll. Anhand von Zeichen vermitteln Bilder - ein wenig allgemeiner formuliert -, wie etwas repräsentiert oder bezeichnet wird, was ein Mensch wahrgenommen, sich vorgestellt, erfahren oder erdacht hat. Oft verstehen wir die ikonischen Zeichen auf Bildern scheinbar unvermittelt; selten heißt dies aber, wir hätten den zeichenhaften Charakter von Bildern vergessen und würden nunmehr denken, sie wären mit der Wirklichkeit identisch. Das scheinbar unvermittelte Verstehen von Fotografien, in denen wir beispielsweise sofort den Stuhl in einem Stuhlbild erkennen, rührt aus dem Umstand, daß die visuelle Information ohne Irritationen in der optischen Struktur des Bildes wahrgenommen, ohne nach-zudenken erfahren und auch verstanden wurde. Die Frage, wie oder als was diese "realistische" Fotografie verstanden werden soll, ist schon lange beantwortet. Die Interpretationsregeln für solche Fotografien laufen so sehr gewohnheitsmäßig ab, daß sie überaus selten bedacht werden. Deshalb interpretiert sich der Bilderfluß eines Kinofilms so leicht per Wahrnehmung. Es ist daher scheinbar möglich, bildliche Zeichen unvermittelt zu verstehen, ohne sie als Zeichen ständig zu überdenken. In der Bildbetrachtungssituation sind deshalb zwei Konstruktionen seitenzahl (35) vorhanden: erstens ermöglicht der Bildgegenstand eine Wahrnehmungserfahrung, die im Bewußtsein der Gegenstandsbedeutung aktualisiert wird; direkte Wahrnehmung ist hier eine »Konstruktion der Wirklichkeit«. Und zweitens führen die Zeichen zu einer Vorstellung, die im Bewußtsein interpretierter Zeichen verwirklicht wird; Vorstellungen, Zeicheninterpretationen sind eine »Wirklichkeit der Konstruktion« zeichenhafter Realität [hierzu Karger 1991/71]. In der ersten Konstruktion erfahren wir den Bildgegenstand in direkter Wahrnehmung, und in der zweiten Konstruktion verwirklichen wir Zeichen und Interpretationen über ihn, indem uns das Zeichen zu einer Vorstellung bewegt, die z.B. durch eine wahrgenommene Emotion, einen Begriff oder Satz interpretiert wurde. Wir sagen ja auch, die Realität, die das Bild repräsentiert, gefällt mir, oder die direkte Wirklichkeit (Wirkung) des Bildes selbst gefällt mir.

Man sollte trotz allem nicht glauben, Bilder seien wie eine Wirklichkeit aufgebaut und wären keine Zeichen. Zeichen sind immer mehr als ihre bare Materialität. Bilder sind Zeichenmittel, die als Quali- Sin- oder Legizeichen den Aufbau der Bildoberfläche bestimmen und - insofern sie wahrgenommen wurden - einen Objekt- und Interpretantenbezug vorantreiben. Worum es mir geht, findet sich in der Bemerkung Gibsons wieder: "Das Bild verlangt zwei Arten von Auffassung: eine direkte (unmittelbare) Wahrnehmung der Bildoberfläche [Zeichenmittel] und zugleich eine mittelbare Wahrnehmung von dem, was das Bild darstellt [Objekt- und Interpretantenbezug]" [Gibson 1982/313]. Gibsons Formulierung unterstreicht nochmals die Unterscheidung zwischen mitgeteilter Realitätsvorstellung, die auf optischen Repräsentationen (Bezeichnungen) aufbaut, und gegenständlicher Wirklichkeit, die direkt wahrnehmbare, weil selbst materielle, bildliche Zeichenmittel präsentiert.

Eine Komplikation bleibt bestehen: auch wenn die visuelle Wahrnehmung nicht notwendig an Zeichenbedeutung und sprachliches Denken gebunden ist, so ist zumindest die Gegenstandsbedeutung im Handeln und Verhalten an visueller Wahrnehmung beteiligt. Wir können Bilder nämlich nur sehen, wenn wir wenigstens auf den Gegenstand aufmerksam werden. Aufmerksamkeit und visuelle Informationsgewinnung, die das vorkommunikative Bewußtsein erlangt, ist nie unabhängig von Bedeutung ausgerichtet [s.S. 67]. Allerdings bleibt bei der visuellen Wahrnehmung zu bemerken, daß nicht nur Bedeutungen mit den Augen seitenzahl (36) verfolgt werden, sondern ebenso Farben, Umrisse, Kanten und Formen. Die optische Form! seitenzahl (37) fällt nicht mit der Bedeutung in eins. "Die Form hat keinen eigenständigen Wert. Sie ist in der Regel nur wichtig als Merkmal für die Erkenntnis des Gegenstandes in seiner Bedeutung ..." [Rubinstein 1959/317]. Wahrnehmung bindet sich an das Für-wahr-halten von Formmerkmalen eines Gegenstandes. Wie jedoch die Wahrnehmung Qualitäten von Formen zu Tatsachen strukturiert, läßt die Bedeutung offen. Mit Bedeutung ist erkannt, aber nicht beschrieben, wie ein Gegenstand im genauen aussieht bzw. welche exakte Form und Farbe er hat. Denn Wahrnehmung von Formqualitäten gehört zu einem Bereich der kognitiven Beschreibung, den ein Beobachter in seiner menschlichen Struktur konfiguriert [vgl. Maturana u. Varela 1987/31]. Vor diesem Hintergrund der menschlichen Wahrnehmung von Farben und Formen und der materiellen Umsetzung von sichtbaren Zeichenbeschreibungen muß davon ausgegangen werden, daß ein Wahrnehmender Perzeptionsmodelle für Formmerkmale seiner Bildkultur lernend strukturiert. Wäre dies unmöglich, so würde es uns beispielsweise schwerfallen, einen Kinofilm oder Dreidimensionalität durch eine stereoskopische Linsenbrille visuell zu erkennen.

Ich hoffe, daß sich bisher verdeutlichte, wann Bilder als Zeichen oder Gegenstand interpretiert werden und wie sich ihre Gegenstandshaftigkeit und Zeichenhaftigkeit von Sprache und Schrift unterscheidet. Im übernächsten Kapitel 2.3. (Wie entsteht visuelle Wahrnehmung?) werde ich den Boden für eine Begründung vorbereiten, die später klärt, wie es zu einer kulturgeprägten Perzeptionen oder zu visuellen Interpretationsmodellen von Formen kommt. Wenn dies gelungen ist, dann läßt sich auch ein vorkommunikatives Bewußtsein in der Bildwahrnehmung und -produktion begründen, welches nicht in den (kommunikativen) Bedeutungen einer Kultur aufgeht, sondern auf einen ikonischen Darstellungscode von Bildformen und -merkmalen anspricht. Ein solch ikonischer Darstellungscode ist in seinen Formmerkmalen einer Sprache vollständig unvergleichlich, weil er, wie mehrfach gesagt wurde, im ikonischen Objektbezug visuell kommunikative Informationen freigibt, die sogar vorkommunikativ wie Gegenstände wahrgenommen werden können.

Wäre ein ikonischer Darstellungscode in Kulturen vorhanden, dann müßte er der Anforderung genügen, daß seine Zeichenmittel (Quali-, Sin-, Legizeichen) in ihrer optischen Struktur so geordnet sind, daß ein Betrachter in einer bestimmten Kultur diese Codierung als ein Merkmal bezeichnender Formen eines visuell kommunikativen Ikons wahrnimmt. Dieses Ikon zeichnet sich dadurch aus, daß der Betrachter im bildlichen Zeichen eine "graduelle Ähnlichkeit" seitenzahl (38) zum Gegenstand wiedererkennt, oder zumindest, wenn das Objekt inexistent ist, daß der Betrachter wiedererkennt, welches fiktive Objekt optisch bezeichnet wird. Ich denke, es ist ausreichend begründet worden, daß solche Objektbezüge auch ohne Sprache wiedererkannt werden. Um vor der weiteren Begründung eines ikonischen Darstellungscodes ein Beispiel zu nennen, sei hier auf Fotografien verwiesen, die sich dadurch auszeichnen, daß sie häufig für realistische Veranschaulichungen eines Objekts gehalten werden. Dies liegt daran, daß wir es in unserer Kultur erlernt haben, Perzeptionsschemata seitenzahl (39) für die Zeichenmittel in Fotografien auszubilden. Aufgrund dieser Perzeptionsschemata fällt es uns in der Regel sehr leicht, den ikonischen Objektbezug der Zeichen auf Fotografien zu erkennen. Dies ist in anderen Kulturen, wo Fotografien unbekannt sind, nicht immer gegeben. "Im Extremfall sehen solche Neulinge nur einfach ein flaches Ding ..." [Arnheim 1972/ 291]. Mir geht es daher um die Begründung, warum wir es zum Teil von den Bildern selbst gelernt haben, Bilder zu sehen. In Untersuchungen zur Sprache wundert sich heutzutage fast niemand mehr, daß wir es auch - d.h. nicht nur - von der Sprache selbst gelernt haben, deren symbolische Kartographien sowohl akustisch als auch inhaltlich zu verstehen und nachzusprechen. Warum sollten kulturelle Bildformen nicht Bildformen erst ermöglichen?


   a) Semiotischer Exkurs zur Wahrnehmung von Zeichen Inhaltsverzeichnis   Anfang
 
Die bisherigen Ausführungen semiotisch gewendet, deuten darauf hin, daß unwahrscheinliche Bildzeichen eine Wahrnehmung erfordern, die der Wahrnehmung natürlicher, dreidimensionaler oder wahrscheinlicher Gegenstände nur in Ausnahmefällen gleicht. Die Wahrnehmung der Zentralperspektive folgt beispielsweise einer Codierung, die in der Natur unwahrscheinlich ist. Daher weisen künstlich hergestellte Zeichen eine optische Struktur auf, die im Fall von Bildern kulturspezifischen Quali- Sin- und Legizeichen folgt. Will ein Betrachter diese unwahrscheinlichen Bildzeichen visuell decodieren, dann muß er sie visuell komprimieren, um sie zu erkennen; er muß sie mit den Augen "durchschauen", um ihren ikonischen Objektbezug zu erkennen.

Die pointillistische Malweise bietet ein Beispiel für den gemeinten Vorgang. Sie führt vor, wie ungemischte Farbpunkte nur in der visuellen Konstruktion des Betrachters zum gewünschten Hauptton, zur Form, und somit zum gewünschten Zeichen verschmelzen bzw. komprimiert werden. Semiotisch interpretiert heißt dies, die Farbpunkte, also die Qualizeichen, werden vom Auge im Zusammenhang mit der kognitiven Funktion des Gehirns als Farbe und Form konstruiert. Das Qualizeichen muß in der Wahrnehmung als (Sin-)Zeichen erkannt werden, bevor es als ikonische Repräsentation eines Stuhlbildes im Interpretantenbezug bestimmt wird. Demnach läuft die Zeichenbildung bei der Wahrnehmung genau nach der Stufenfolge ab, die mit den semiotischen Kategorien (Erst- Zweit- Drittheit) von Peirce aufgezeigt wurden. Wenn dies zutrifft, dann müßte beispielsweise ein Ikon [Zweitheit] die Repräsentation eines vorab kognitiv interpretierten Inhalts im Qualizeichen [Erstheit] sein, weil ein Betrachter nur die präsenten Farben und Formen (Quali- Sin- Legizeichen) sieht, die in der Möglichkeit seiner visuellen Kognition liegen. Der ikonische Objektbezug des Bildes kann daher vom Betrachter erst erkannt werden, wenn er Sinnesdaten als Farbe und Form differenziert hat. Das Qualizeichen muß erst zum Zeichen gemacht werden, wie Gerhard Schönrich [vgl. 1990/144] bemerkt. Das heißt, ein Qualizeichen hat tatsächlich immer an sich eine Qualität, die seine potentielle Sichtbarkeit "garantiert", obwohl das Qualizeichen selbst ein Zeichen für Qualitäten in der materiellen Umwelt ist. Beispielsweise repräsentiert das Qualizeichen »Gelb« im Bild das Gelb eines gelben Regenschirms. Dennoch ist das bildliche Qualizeichen Gelb selbst als eine materielle Qualität in der gelben Farbe präsent, die vom Betrachter wahrgenommen werden muß, damit er es wirklich sieht. Ein solches Qualizeichen wird jedoch erst dann wahrgenommen, wenn der Betrachter über die kognitive Möglichkeit einer Zeichenwahrnehmung verfügt.

Es muß aber nicht nur das Qualizeichen als bildliches Zeichen, sondern jedes optische Quali- Sin- Legizeichen in seinem Mittelbezug per Wahrnehmung interpretiert werden. Erst Wahrnehmung [Zweitheit] und nicht die sinnliche Empfindung reicht für die Feststellung eines Gegenstandes aus. Idealisiert man unser konstruiertes Wissen über Licht, dann ermöglicht ein Bild in identischen Situationen, vorausgesetzt alle Augäpfel wären gleich, vermutlich allen Menschen annährend ähnliche Reizungen (Empfindungen), in denen Informationen wahrgenommen oder nicht wahrgenommen werden können. Ein Legizeichen, wie beispielsweise die künstliche Perspektive, wird daher erst dann ad hoc wahrgenommen, wenn dies in der erlernten Möglichkeit der visuellen Kognition eines Individuums liegt; das Individuum muß die optische Zeichenstruktur im visuellen Vor-Bewußtsein schon erlernt haben. Daß dieses Legizeichen ein Zeichen ist, kennzeichnet dann lediglich die visuelle Gewohnheit, die sich von der faktischen Gegebenheit des Zeichens abgelöst hat, indem in informationellen Formmerkmalen sofort ikonische Objekte wahrgenommen werden.


----Fußnoten----

(29) Fellmann [vgl. 1989/111] behauptet, daß die Reflexion bei der Betrachtung von fixierten Bildern in einer Notwendigkeit erfolgt. Diesem vermeintlichen Zwang widersprechen zumindest indische Meditationsbilder, die, korrekt verwendet, gerade nicht zur Reflexion führen sollen. Ebenfalls erläuterte Walter Benjamin [vgl. 1963/38] die Erfahrung einer kontemplativen Bildbetrachtung ohne Reflexion. Als einen Augenblick der ästhetischen Kontemplation beschreibt Seel recht treffend die rücksichtslose "... Aufmerksamkeit für etwas, das durch die Art seiner Wahrnehmung aus jeder denkbaren praktischen und intellektuellen Kontinuität herausgerissen wird" [Seel 1993/36].


(30) Im Peirceschen Sinne wäre dies eine unrichtige Verwendung des Begriffs "Semiotik", weil Peirce Empfindung und Aktion/Reaktion als Semiose beschreibt [s.S. 42].


(31) Die Zuordnung von Sprach- und Bildverstehen zwischen linker und rechter Hirnhälfte ist vermutlich zu grob. Sprache und Anschauung können hirnphysiologisch auch in anderer Verteilung organisiert sein. Trotzdem geht die Hirnforschung bisher davon aus, daß Bilder und Sprache in unterschiedlichen Modi bzw. Zentren verarbeitet werden, worauf es mir in jenem Beispiel ankommt.


(32) So neu ist der Simulationsgedanke nicht. Selbst Michelangelo versuchte in der sixtinischen Kapelle schon um 1510, die Architektur an der Decke zu simulieren. Ein noch stärker beeindruckenden Simulationsversuch der Aufhebung zwischen Zeichen und Raumarchitektur zeigt das um 1685 gemalte Deckenfresko von Andrea Pozzo in der römischen "Sant'Ignazio di Loyola" Kirche.


(33) Die heutige Cyberspacs?etechnik scheint noch weit davon entfernt zu sein, Druck, Wärme, Gerüche, Geschmack, also alle sensorischen Felder des gesamten Körpers wirklichkeitsgetreu zu stimulieren [vgl. Waffender 1991].


(34) Mündlich auf dem Symposium "Interface II" am 7.3.93 in Hamburg auf die Frage, wo der Unterschied zwischen Erfahrung und Zeichen liegt.


(35) Auch Sartre [vgl. 1971/68-71] beschreibt diese Möglichkeit der direkten Wahrnehmung, in der Trennung von Vorstellungs- und Wahrnehmungsbewußtsein. Für den Augenblick des Trompe-l’œil begründet Sartre ein Wahrnehmungsbewußtsein, bei dem sich ein Betrachter einer solchen Wahrnehmung bewußt wird, wie sie auch bei der Wahrnehmung eines realen Menschen entstehen würde. Im Wahrnehmungsbewußtsein spricht das Bild den Betrachter direkt an. Sobald das Bild aber als Zeichen erkannt ist, spricht Sartre von einem Vorstellungsbewußtsein, in dem das Gemälde aufhört, Objekt zu sein, da es dann als Materie eines "image" [("Eben-", "Spiegel-") Bilds, Vorstellung] fungiert. Ich denke, daß Sartres Begriffe von Wahrnehmungs- und Vorstellungsbewußtsein große Ähnlichkeit zu der von mir verwendeten Unterscheidung zwischen dem Bewußtsein der Gegenstands- und Zeichenbedeutung haben, obwohl ich das Wahrnehmungsbewußtsein hauptsächlich dem Gegenstand Bild zurechne und nicht der Augentäuschung.


(36) Etymologisch bezeichnet »Sehen« "mit den Augen verfolgen" [Duden Etymologie 1989 Mannheim].


(37) Ich möchte bei den Begriffen der Form und Farbe bleiben, da ich denke, daß sie leics?hter zu kommunizieren sind. Obwohl Gibson zutreffenderweise eindringlich darauf insistiert, daß wir keine Punkt-zu-Punkt-Korrespondenz der Form auf unserer Netzhaut empfangen, also kein Abbild. "Die Information, die in der optischen Anordnung von einem Bild zum Beobachtungsort kommt, besteht aus Invarianten, nicht aus Formen oder Farben" [Gibson 1982/313]. Demnach sehen wir Invarianten [s.S. 93], die wir als Formen und Farben bezeichnen, was im weiteren bedacht werden sollte.


(38) Der Begriff der Ähnlichkeit wird noch problematisiert [s.S. 316, Kap. 2.11. "Wie wirkt ... Ähnlichkeit?]. Vorausgeschickt sei, daß Ähnlichkeit zwischen Bild und referiertem Gegenstand für visuelle Kommunikation völlig unnötig ist. Außerdem ähneln Bilder nie vollständig einem referierten Gegenstand, sonst wären sie keine Bilder mehr. Bilder ähneln ihrem kulturellen Code [vgl. Schönrich 1990/138; Scholz 1991/43ff.].


(39) Der Begriff "Schemata" folgt der Theorie Neissers [vgl. 1979/48ff.] und wird noch näher erläutert [s.S. 93].


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